Ludwig-Maximilians-Universität München
Fakultät für Psychologie und Pädagogik
Institut für Pädagogik
Wissenschaftliche Arbeit zur Erlangung des akademischen Grades eines Magister Artium
Jean – Jacques Rousseau (1712 – 1778)
Einflussfaktoren auf Jean – Jacques Rousseaus Entwicklungstheorie
Vorgelegt von Alain M.G. Kathola
E-Mail: mupungu.kathola@stud.uni-muenchen.de
Referent: Prof. Dr. Dr. Herbert Tschamler
Korreferentin: PD Dr. Dr. Elisabeth Zwick
Bisher habe ich die Menschen nicht nach Stand, Rang und Glücksgütern unterschieden und ich werde es auch in Zukunft nicht tun, weil der Mensch in jedem Stand Mensch ist.
Rousseau, J.- J. (1971): „Emil oder über die Erziehung“, S. 191
Für Heidrun und unsere Kinder Sarah Rosalie, Alain Jonas (+) und Aléna Sophie
Inhaltsverzeichnis:
( 1. & 2. Buch) 10
zur Pubertät (3. Buch) 30
(4. & 5. Buch) 37
2.7 Entwicklung im Spannungsfeld Individuum – Gesellschaft 44
2.7.1 Emils bürgerliche Beziehung zu seinen Mitmenschen 47
2.8 Zusammenfassung der Entwicklungstheorie 47
1. Einleitung
Diese Arbeit wird sich mit Hilfe von der hermeneutischen 1 Methode mit den Einflussfaktoren auf Jean – Jacques Rousseaus Entwicklungstheorie auseinandersetzen. Sein 1762 nach achtjähriger Arbeit erschienenes Werk: „Emil oder über die Erziehung“ löst große Aufregung in der Epoche aus. „Damit war die ‚Bibel’ der modernen Pädagogik geschaffen, und der Ruhm Rousseaus als eines pädagogischen Reformators verbreitete sich mit unglaublicher Schnelligkeit durch ganz Europa.“ 2 Aber sowohl die Kirche als auch der Staat üben starke Kritik an diesem Werk und lassen es öffentlich zerreißen und verbrennen, denn Rousseau bricht mit der damaligen Tradition. Man nimmt „Emil“ als Provokation auf und fühlt sich durch Rousseau angegriffen, wenn er fordert, dass man das Gegenteil vom Üblichen tun solle.“ 3 Mit der „idealen“ Figur des Emil demonstriert Rousseau, dass es möglich sei, einen Naturmenschen ohne Kontakt zur Außenwelt und Zivilisation heranzubilden.
Das Ziel dieser Arbeit ist es, anhand des Werkes „Emil oder über die Erziehung“ von Jean – Jacques Rousseau, seine Entwicklungstheorie darzustellen und die wichtigsten Einflussfaktoren auf dieses Werk herauszuarbeiten. Um dies zu verdeutlichen, wird Sekundärliteratur zu Hilfe genommen. Vor dem Hintergrund von Rousseaus Entwicklungstheorie soll versucht werden, aus unterschiedlichen Bereichen seines Lebens und seiner Gedanken alle möglichen Einflüsse zu erarbeiten, die ihn geprägt haben. Es soll verständlich gemacht werden, dass Rousseaus Entwicklungstheorie nicht nur aufgrund von theoretischen Reflexionen zustande kam, denn die Pädagogik als Wissenschaft der Praxis für die Praxis gewinnt immer Erkenntnisse aus der Praxis, bildet daraus eine Theorie, die wiederum der Praxis dienen sollte. „Ich will nur feststellen, dass alle seit langem einer Meinung über die herrschende Praxis sind, ohne dass jemand eine bessere vorgeschlagen hätte.“ 4 Rousseaus Weltanschauung kann sich einerseits nur als Produkt seiner Erfahrungen definieren, denn: „Wir werden empfindsam geboren und von Geburt an auf verschiedene Weise durch unsere Umwelt beeinflusst.“ 5 Andererseits muss aber mit Nachdruck artikuliert werden, dass Rousseau nicht nur seinen Kopf gebraucht hatte, sondern auch seinem Herzen folgte. Die Tatsache, dass sich Rousseau gerade für die Erziehung interessiert, um sein Menschenbild zu präsentieren, wird herausgearbeitet. Eine Auseinandersetzung mit ihm kann nicht nur als eine große Herausforderung betrachtet werden, sondern erfordert auch eine ausgeprägte Sensibilität, um ihn nicht zu missverstehen. Rousseau möchte u. a. durch sein Werk „Emil oder über die Erziehung“ aus pädagogischer Sicht zeigen, wie unnötige Probleme und Schwierigkeiten auf der Welt aufgrund einer nicht geeigneten Erziehung entstehen können. Die Pädagogik als Wissenschaft von Möglichkeiten ist hier gefragt, um das Menschenbild, das wir uns selbst schaffen und später kritisieren, zu verändern bzw. zu modifizieren, indem wir von Beginn an den natürlichen Weg wählen, wie Rousseau uns in „Emil“ empfiehlt, denn die „Natur umschreibt das Unverbildete, stets Neue und Anfängliche, in dem auch jeder Mensch seinen Ursprung nimmt. Dieser Gedanke der Natur ist für ROUSSEAUS (sic) pädagogische Systematik von größter Tragweite.“ 6
1 Die Hermeneutik zielt darauf ab, den Sinn zu erhellen, zu erfassen, d. h. Verstehen und Auslegen, nicht aber auf Gesetze und Grundprinzipien. Der Sinn, der in ein Objekt (menschliches Dokument) hineingelegt worden ist, soll herausgearbeitet, verstanden, interpretiert und ausgelegt werden. Dabei kann der Forschende mit Hilfe der hermeneutischen Methode erkennen, was das Dokument meint. Die Hermeneutik beschränkt sich als „Kunst der Auslegung“ nicht auf Textinterpretation, sondern bezieht sich auf das Menschliche insgesamt, sofern es als „dauernd fixierte Lebensäußerung“ vorliegt. Vgl. Danner, H. (1989), S. 31 - 67
2 Rattner, J. (1956), S. 69
3 Vgl. Rousseau, J. – J. (1971), S. 73 & s. auch Punkt 2.1.10 „Inaktivität der Erziehung“
4 Rousseau, J. – J. (1971), S. 5
5 Ebd., S. 11
6 Ballauf, T. & Schaller, K. (1970), S. 327
7 Vgl. Birr – Chaarana, E. (1993), S. 67
8 Rousseau, J. – J. (1971), S. 211
9 s. auch Punkt 3.4 „Religion und Philosophie“
10 Cassirer, E. (1989), S. 24
11 Rattner, J. (1956), S. 70
12 Rousseau, J. – J. (1971), S. 25
13 Ebd., S. 27
14 Rousseau, J. – J. (1971), S. 10
15 Rattner, J. (1956), S. 71
16 Vgl. Rousseau, J. – J. (1971), S. 37
17 Hahnemann, S. & Rousseau, J. – J. (1985), S. 25
18 Locke, J. (1970), S. 23
19 Rousseau, J. – J. (1971), S. 141
20 Funke, G. (1958), S. 155
21 Ebd., S. 218
22 Ebd., S. 218
23 Ebd., S. 221
24 Ebd., S. 222
25 Ebd., S. 222
26 Rousseau, J. – J. (1971), S. 39
27 Hahnemann, S. & Rousseau, J. – J. (1985), S. 22
28 Rousseau, J. – J. (1971), S. 53
29 Ebd., S. 43
30 Vgl. ebd., S. 119
31 Hahnemann, S. & Rousseau, J. – J. (1985), S. 72
32 Vgl. Rousseau, J. – J. (1971), S. 119
33 Vgl. Hahnemann, S. & Rousseau, J. – J. (1985), S. 72
34 Vgl. ebd., S. 72
35 Rousseau, J. – J. (1971), S. 120
36 Ebd., S. 111
37 Ebd., S. 264
38 Ebd., S. 148
39 Vgl. ebd., S. 149
40 Dietrich, T. (1975), S. 28
41 Rousseau, J. – J. (1971), S. 10f
42 Ebd., S. 35
43 Vgl. May, G. (1961), S. 50
44 Rousseau, J. – J. (1971), S. 220
45 Dietrich, T. (1975), S. 32
46 Heutzutage sind es die Medien, die die Entwicklung der Leidenschaften von Kindern beschleunigen, indem die Kinder immer früher das Bedürfnis haben, z.B. ein Handy zu besitzen oder ein Nintendo bedienen zu müssen. Aufgrund der Entwicklung der Technik werden diverse Seiten im Internet (Vgl. www.muc.kobis.de ) angeboten, womit sich die Kinder beschäftigen können. Kinder können so grausam sein, dass das Kind, das sich nicht auf dem aktuellsten Stand befindet, von anderen Kindern stigmatisiert und somit als Außenseiter behandelt wird. Das Phänomen lässt sich nicht nur in der Schule oder im Wohngebiet beobachten, sondern auch bereits im Kindergarten.
47 Ballauf, T. & Schaller, K. (1970), S. 326
48 Rousseau, J. – J. (1971), S. 116
49 Roth, L. (2001), S. 12
50 Ballauf, T. & Schaller, K. (1970), S. 327
51 Rousseau, J. – J. (1971), S. 15
52 Ebd., S. 10
53 Ebd., S. 105
54 Ebd., S. 11
55 Treml, A. K. (1999), S. 92
56 Rousseau, J. – J. (1971), S. 11
57 Alberg SJ, J. (1996), S. 49
58 Ballauf, T. & Schaller, K. (1970), S. 327
59 Launay, M. (1969), S. 152
60 Rousseau, J. – J. (1971), S. 12
61 Hahnemann, S. & Rousseau, J. – J. (1985), S. 25f
62 Rousseau, J. – J. (1971), S. 36
63 Rattner, J. (1956), S. 65
64 Rousseau, J. – J. (1971), S. 143
65 Ebd., S. 144
66 Ebd., S. 374
67 Ebd., S. 374
68 Ebd., S. 146
69 Ebd., S. 61
70 Vgl. ebd., S. 61
71 Ebd., S. 45
72 Ebd., S. 22
73 Ebd., S. 86
74 Ebd., S. 48
75 Ebd., S. 50
76 Ebd., S. 73
77 Ebd., S. 72
78 Vgl. ebd., S. 71
79 Ebd., S. 69
80 Vgl. ebd., S. 82
81 Ebd., S. 64
82 Ebd., S. 22
83 Ebd., S. 70
84 Vgl. ebd., S. 70
85 Ebd., S. 173
86 Schärer, E. (1860), S. 216
87 Vgl. Rousseau, J. – J. (1971), S. 175
88 Vgl. ebd., S. 95ff
89 Vgl. ebd., S. 101
90 Ebd., S. 135
91 Vgl. ebd., S. 132ff
92 Ebd., S. 24
93 Ebd., S. 25
94 Ebd., S. 27
95 Ebd., S. 28
96 Vgl. Dietrich, T. (19875), S. 33
97 L’Aminot, T. (1992), S. 495
98 Schärer, E. (1860), S. 216
99 Hahnemann, S. & Rousseau, J. – J. (1985), S. 63
100 Vgl. L’Aminot, T. (1992), S. 501
101 Ebd., S. 495
102 Vgl. Rousseau, J. – J. (1971), S. 27
103 s. auch Punkt 2.4.8 „Durch den Erzieher gesteuertes Denken“
104 Vgl. Rousseau, J. – J. (1971), S. 465
105 Ebd., S. 460
106 Vgl. ebd., S. 493
107 Ebd., S. 530
108 Hahnemann, S. & Rousseau, J. – J. (1985), S. 74
109 Vgl. Rousseau, J. – J. (1971), S. 5
110 Launay, M. (1969), S. 152
111 Rousseau, J. – J. (1971), S. 69
112 Launay, M. (1969), S. 152
113 May, G. (1961), S. 21
114 Ebd., S. 21
115 Rousseau, J. – J. (1971), S. 55f
116 Ebd., S. 151
117 Ebd., S. 156
118 Ebd., S. 157
119 Ebd., S. 164
120 Vgl. Birr – Chaarana, E. (1993), S. 97
121 Rousseau, J. – J. (1971), S. 14
122 Vgl. ebd., S. 179 - 181
123 Vgl. ebd., S. 200
124 Birr – Chaarana, E. (1993), S. 100
125 Rousseau, J. – J. (1971), S. 164
126 Ebd., S. 208
127 Ebd., S. 206
128 Vgl. ebd., S. 204 - 207
129 Ebd., S. 207
130 Ebd., S. 179
131 Birr – Chaarana, E. (1993), S. 116
132 Rousseau, J. – J. (1971), S. 174
133 Ebd., S. 158
134 s. auch Punkt 2.1.12 „Nützlichkeit als Handlungsmotivation“
135 Rousseau, J. – J. (1971), S. 87
136 Ebd., S. 26
137 Ebd., S. 189
138 Vgl. Birr – Chaarana, E. (1993), S. 113
139 Rousseau, J. – J. (1971), S. 179
140 Ebd., S. 179
141 Ebd., S. 163
142 s. auch Punkt 2.1.12 „Nützlichkeit als Handlungsmotivation“ – Erlebnis im Wald von Montmorency S. 25 und Punkt 2.4.4 „Lernen durch Anschauung“ – Stock im Wasser, Strahlenbrechung S. 33
143 Cassirer, E. (1989), S. 24
144 Vgl. Birr – Chaarana, E. (1993), S. 117
145 Rousseau, J. – J. (1971), S. 163f
146 Vgl. ebd., S. 165 - 168
147 Ebd., S. 168
148 Ebd., S. 241
149 Birr – Chaarana, E. (1993), S. 126
150 s. auch Punkt 2.1.10 „Inaktivität der Erziehung“
151 Rousseau, J. – J. (1971), S. 214
152 Vgl. ebd., S. 254
153 s. auch Punkt 2.4.7 „Lernen durch Fehler“
154 Rousseau, J. – J. (1971), S. 251
155 Vgl. ebd., S. 212
156 Vgl. ebd., S. 252f
157 Vgl. ebd., S. 238f
158 Ebd., S. 233
159 Vgl. ebd., S. 344
160 Vgl. ebd., S. 233f
161 Ebd., S. 340
162 Vgl. ebd., S. 216
163 Ebd., S. 217
164 Ebd., S. 224
165 Vgl. ebd., S. 261
166 Vgl. ebd., S. 337
167 Ebd., S. 339
168 Vgl. ebd., S. 345
169 Ebd., S. 349
170 Vgl. ebd., S. 353
171 Ebd., S. 368
172 Ebd., S. 369
173 Cassirer, E. (1989), S. 23
174 Rousseau, J. – J. (1971), S. 394
175 Hahnemann, S. & Rousseau, J. – J. (1985), S. 88
176 May, G. (1961), S. 25
177 Hahnemann, S. & Rousseau, J. – J. (1985), S. 88
178 Rousseau, J. – J. (1971), S. 392
179 Hahnemann, S. & Rousseau, J. – J. (1985), S. 89
180 Vgl. Daxner, M. (1983), S. 21
181 Rousseau, J. – J. (1971), S. 395
182 Ebd., S. 398
183 Vgl. ebd., S. 399
184 Vgl. ebd., S. 401
185 Vgl. ebd., S. 409
186 Ebd., S. 409
187 Ebd., S. 409
188 Vgl. ebd., S. 410f
189 Ebd., S. 414
190 Vgl. ebd., S. 422
191 Ebd., S. 423
192 Cassirer, E. (1989), S. 15
193 Vgl. Rousseau, J. – J. (1971), S. 14
194 Ebd., S. 14
195 Ebd., S. 14
196 Ebd., S. 14
197 Ebd., S. 14
198 Birr – Chaarana, E. (1993), S. 53
199 Ebd., S. 55
200 Rousseau, J. – J. (1971), S. 12
201 Vgl. ebd., S. 13
202 Ebd., S. 13
203 Ebd., S. 12
204 Ebd., S. 13
205 Ebd., S. 9
206 Birr – Chaarana, E. (1993), S. 64
207 Cassirer, E. (1989), S. 22
208 Kuhlo, B. (1971), S. 8
209 Cassirer, E. (1989), S. 22
210 Der Ausdruck „bürgerlich“ wird von Rousseau übernommen. In: „Emil oder über die Erziehung“, (1971), S. 501
211 Vgl. ebd., S. 504
212 Ebd., S. 505
213 Ebd., S. 523
214 Ebd., S. 520
215 Hahnemann, S. & Rousseau, J. – J. (1985), S. 13
216 Ebd., S. 25
217 Dietrich, T. (1975), S. 29
218 Müller, R. (1997), S. 268
219 L’Aminot, T. (1999), S. 4
220 Müller, R. (1997), S. 131
221 Ebd., S. 268
222 Rattner, J. (1956), S. 65
223 Hänsel, D. (1974), S. 19
224 s. auch Punkt 2.1.4 „Die Bedeutung des Sinnesschulung“
225 Rousseau, J. – J. (1971), S. 5
226 Vgl. ebd., S. 531
227 Cassirer, E. (1989), S. 19
228 Völkel, B. (1991), S. 6
229 Rattner, J. (1956), S. 65
230 Wille, H. J. (1952), S. 18
231 Rousseau, J. – J. (1971), S. 22
232 Die Lehre von Jean Calvin (1509 – 1564), die auf der Prädestination der Auserwählten beruht, ermöglicht es nicht, durch Werke Verdienste vor Gott zu erlangen.
233 Wille, H. J. (1952), S. 18
234 Masson, M.– P. (1970). S. 16
235 Rattner, J. (1956), S. 65
236 Rousseau, J. – J. (1971), S. 35
237 Vgl. May, G. (1961), S. 44
238 Rousseau, J. – J. (1971), S. 71
239 Ebd., S. 124
240 Ebd., S. 27
241 s. auch Punkt 3.2.1.1 „Madame de Warens“
242 Rousseau, J. – J. (1971), S. 273
243 Vgl. Rudolf, G. (1969), S. 33 & s. auch Punkt 3.5 „Medizin“
244 Rattner, J. (1956), S. 66
245 So verliebt er sich z.B. des Öfteren in die Mütter der zu unterrichtenden Töchter, um im Falle des Versagens von diesen vor der sozialen Blamage bewahrt zu werden. Vgl. Daxner, M. (1983), S. 16
246 s. auch Punkt 1. „Einleitung“
247 s. auch Punkt 3.2.1.2 „Thérèse Levasseur“
248 Rattner, J. (1956), S. 65
249 Ebd., S. 66
250 Rousseau, J. – J. (1971), S. 11
251 Ebd., S. 257
252 „Gestern um dieselbe Zeit haben wir die Lage des Waldes von Montmorency untersucht. (...) Emil schlägt in die Hände und ruft von Freude: Ich sehe Montmorency! Da liegt es ganz nah. Gehen wir essen, laufen wir schnell! Die Astronomie ist doch zu etwas gut.“ Ebd., S. 175ff
253 Rattner, J. (1956), S. 70
254 Ebd., S. 69
255 s. auch Punkt 3.1 „Rousseaus Biographie“
256 Rang, M. (1979), S. 118
257 Wille, H. J. (1952), S. 24
258 May, G. (1961), S. 8
259 Ebd., S. 10
260 Ebd., S. 10
261 Ebd., S. 10
262 Ebd., S. 11
263 Ebd., S. 13
264 Ebd., S. 13
265 Ebd., S. 13
266 Vgl. ebd., S. 13
267 Ebd., S. 15
268 Ebd., S. 15
269 Ebd., S. 48
270 Ebd., S. 48
271 Ebd., S. 48
272 Vgl. Daxner, M. (1983), S. 22
273 Wille, H. J. (1952), S. 287
274 Ebd., S. 287
275 Louise d’Epinay (1726 – 1783) lernt Rousseau im Jahre 1747 kennen und es verbindet sie eine intensive Freundschaft. D’Epinay schlägt Rousseau 1755 vor, sich in ihrer Eremitage niederzulassen. Die Beziehung bricht jedoch 1757 zusammen, als Rousseau ihr unterstellt, Briefe gelesen zu haben, die an Madame d’Houdetot adressiert waren. Aus diesem Grund zieht er aus der Eremitage aus. Aus: http://rousseau.unige.ch/relations.htm
276 Sophie d’Houdetot (1730 – 1813) trifft Rousseau 1748 zum ersten Mal, aber Freundschaft schließen sie erst 1757. Sie besuchen sich gegenseitig und Rousseau verliebt sich in sie. Sophie bleibt jedoch ihrem Poeten Saint – Lambert treu und zieht sich allmählich von Rousseau zurück. Aus: Ebd.
277 Wille, H. J. (1952), S. 288
278 Ebd., S. 289
279 Ebd., S. 35
280 Ebd., S. 289
281 Ebd., S. 34
282 Ebd., S. 291
283 Ebd., S. 297
284 Ebd., S. 27f
285 Ebd., S. 298
286 Ebd., S. 298
287 Ebd., S. 301
288 Rousseau, J. – J. (1971), S. 5
289 Ebd., S. 68
290 Erdmann, J. E. (1840), S. 19
291 Ebd., S. 13
292 Dangelmayer, S. (1974), S. 74
293 Vgl. ebd., S. 75
294 s. auch Punkt 2.4.6 „Individualisierung und Individualität“
295 Schärer, E. (1860), S. 216
296 Ebd., S. 216
297 Vgl. Locke, J. (1970), S. 7
298 Ebd., S. 7
299 Vgl. ebd., S. 7
300 Ebd., S. 7
301 Rousseau, J. – J. (1971), S. 28
302 Schärer, E. (1860), S. 215 & s. auch Punkt 2.4.3 „Lernen am Modell“
303 Locke, J. (1970), S. 8
304 ebd., S. 8
305 ebd., S. 8
306 Rousseau, J. – J. (1971), S. 114
307 Ebd., S. 39 & s. auch Punkt 2.1.2 „Vermeidung von Gewohnheiten als Struktur der Erziehung“
308 Locke, J. (1970), S. 15
309 ebd., S. 15
310 Schärer, E. (1860), S. 216 & s. auch Punkt 2.1.3 „Bewegung als Entwicklungsfaktor“
311 s. auch Punkt 2.1.7 „Landleben als natürliche Lebensweise“
312 Locke, J. (1970), S. 12
313 Rousseau, J. – J. (1971), S. 36
314 Vgl. Locke, J. (1970), S. 13
315 Ebd., S. 14
316 Vgl. ebd., S. 14
317 Ebd., S. 14
318 Rousseau, J. – J. (1971), S. 118
319 Vgl. ebd., S. 35 & s. auch Punkt 2.1.7 „Landleben als natürliche Lebensweise“
320 Locke, J. (1970), S. 16
321 Ebd., S. 16
322 Rousseau, J. – J. (1971), S. 16
323 Vgl. ebd., S. 16 & Locke, J. (1970), S. 16
324 s. auch Punkt 2.1.8 „Ernährung als Grundlage für Entwicklung und Erziehung“
325 Rousseau, J. – J. (1971), S. 146
326 Locke, J. (1970), S. 27
327 Vgl. Rousseau, J. – J. (1971), S. 116
328 Aulke, R. (2000), S. 53
329 s. auch Punkt 3.1 „Rousseaus Biographie“
330 Aulke, R. (2000), S. 54
331 Rattner, J. (1956), S. 66
332 Vgl. Rousseau, J. – J. (1971), S. 156f & s. auch Punkt 2.4 „Entwicklung und Erziehungsgrundlagen in der Übergangszeit zur Pubertät (3. Buch)“
333 Aulke, R. (2000), S. 54
334 Locke, J. (1970), S. 33
335 Schärer, E. (1860), S. 217
336 Ebd., S. 218
337 s. auch Punkt 2.6.4 „Erziehung zur Religion“
338 Rousseau, J. – J. (1971), S. 266f
339 Vgl. ebd., S. 264 - 275
340 Schärer, E. (1860), S. 218
341 s. auch Punkt 2.2 „Der Erzieher als dominante Figur“ & Punkt 2.4.6 „Individualisierung und Individualität“
342 Locke, J. (1970), S. 635 & s. auch Punkt 2.1.6 „Natürlichkeit als Erziehungsnorm“ & Punkt 2.7 „Entwicklung im Spannungsfeld Individuum – Gesellschaft“ S. 45, Fußnote 199
343 Daxner, M. (1983), S. 9
344 Dietrich, T. (1975), S. 28
345 Röd, W. (1984), S. 66
346 Daxner, M. (1983), S. 12
347 Kreimendahl, L. (2000), S. 157
348 Vgl. Baumann, B. & Oberle, B. (1985), S. 76
349 Kreimendahl, L. (2000), S. 160
350 Vgl. Baumann, B. & Oberle, B. (1985), S. 80
351 Kreimendahl, L. (2000), S. 157
352 Cassirer, E. (1989), S. 16
353 Von Felden, H. (1997), S. 38
354 Vgl. Kreimendahl, L. (2000), S. 158f & Vgl. Rousseau, J. – J. (1971), S. 111
355 Vgl. Rousseau, J. – J. (1971), S. 279
356 Kreimendahl, L. (2000), S. 158
357 Vgl. Rousseau, J. – J. (1971), S. 132
358 Kreimendahl, L. (2000), S. 161
359 s. auch Punkt 3.1 „Rousseaus Biographie“ & 3.3 „Zeitgeist bzw. zeitgenössische Konzeption (Aufklärung)“
360 Kreimendahl, L. (2000), S. 162
361 Vgl. Rattner, J. (1956), S. 67
362 Vgl. Rousseau, J. – J. (1971), S. 81
363 Kreimendahl, L. (2000), S. 164
364 Ebd., S. 165
365 Wille, H. J. (1952), S. 34
366 Gaub, O. (1988), S. 743
367 Scheuerl, H. (1979), S. 116
368Kreimendahl, L. (2000), S. 107
369 Rattner, J. (1956), S. 67
370 May, G. (1961), S. 18
371 Vgl. Dietrich, T. (1975), S. 28
372 Kreimendahl, L. (2000), S. 112
373 Ebd., S. 114
374 Rousseau, J. – J. (1971), S. 62
375 Ebd., S. 62
376 Von Felden, H. (1997), S. 38
377 Rousseau, J. – J. (1971), S. 5
378 Kreimendahl, L. (2000), S. 116
379 Daxner, M. (1983), S. 12
380 „Voltaire, und deshalb ist er dann ja vielleicht doch wichtig, war wahrscheinlich derjenige, der am radikalsten auf den Primat der Rationalität zurückgreift, wenn es um die Erklärung von Welt geht und Rousseau ist der, der schon frühzeitig die größten Zweifeln einer Ansiedlung der Vernunft in diesem Rationalismus anmeldet.“ Vgl. ebd. S. 12f
381 Dietrich, T. (1975), S. 29
382 Rattner, J. (1956), S. 64
383 Baumann, B. & Oberle, B. (1985), S. 75
384 Ebd., S. 75
385 Vgl. Felden, H. v. (1997), S. 42
386 Baumann, B. & Oberle, B. (1985), S. 76
387 Ebd., S. 76
388 Ebd., S. 76
389 Felden, H. v. (1997), S. 46
390 Dietrich, T. (1975), S. 29
391 Rattner, J. (1956), S. 66
392 L’Aminot, T. (1999), S. 329
393 Daxner, M. (1983), S. 19
394 Völkel, B. (1991), S. 6
395 Ebd., S. 1
396 Daxner, M. (1983), S. 18
397 Völkel, B. (1991), S. 5
398 s. auch Punkt 2.5.2 „Bildung des Herzens“
399 Rattner, J. (1956), S. 66 & s. auch Punkt 2.5.2 „Bildung des Herzens“
400 Daxner, M. (1983), S. 3
401 Cassirer, E. (1989), S. 8
402 Dietrich, T. (1975), S. 29
403 Cassirer, E. (1989), S. 10
404 Dietrich, T. (1975), S. 29
405 Vgl. Rousseau, J. – J. (1971), S. 264 - 275
406 Ebd., S. 264
407 Ebd., S. 264
408 Ebd., S. 264
409 Ebd., S. 264
410 Ebd., S. 265
411 Ebd., S. 265
412 Ebd., S. 265
413 Ebd., S. 265
414 Ebd., S. 265
415 Ebd., S. 265
416 Ebd., S. 266
417 Zu Descartes Vgl. Vorländer, K. (1966) und Specht, R. (1981).
418 Vgl. dazu z.B. Diderot, D. (1989).
419 Rousseau, J. – J. (1971), S. 266
420 s. auch Punkt 3.2.2.2 „Erziehung nach John Locke“
421 Masson, P. – M. (1970), S. 37
422 Rousseau, J. – J. (1971), S. 267
423 Ebd., S. 267
424 Ebd. S. 267
425 Ebd., S. 267
426 Ebd., S. 267
427 Ebd., S. 267
428 Ebd., S. 267f
429 Ebd., S. 268
430 Ebd., S. 268
431 Ebd., S. 268
432 Ebd., S. 268
433 Ebd., S. 268
434 Ebd., S. 268
435 Ebd., S. 269
436 Ebd., S. 269
437 Ebd., S. 269
438 Ebd., S. 269
439 Ebd., S. 269
440 Ebd., S. 269
441 Ebd., S. 269
442 Ebd., S. 269
443 Ebd., S. 270
444 Ebd., S. 270
445 Cassirer, E. (1989), S. 11
446 s. auch Punkt 2.1.1 „Erziehungsziel: Von Schwäche zur Stärke “
447 Rousseau, J. – J. (1971), S. 275
448 Ebd., S. 275
449 Vgl. ebd., S. 275
450 Vgl. ebd., S. 276
451 Ebd., S. 276
452 Cassirer, E. (1989), S. 11
453 Rousseau, J. – J. (1971), S. 276
454 Ebd., S. 277
455 Vgl. ebd., S. 277
456 Vgl. ebd., S. 278
457 Ebd., S. 280 & s. auch Punkt 2.1.4 „Die Bedeutung der Sinnesschulung“
458 Ebd., S. 282
459 Vgl. ebd., S. 279ff
460 Vgl. ebd., S. 282
461 Vgl. ebd., S. 284 - 293
462 Ebd., S. 288
463 Ebd., S. 288f
464 Ebd., S. 289 & s. auch Punkt 2.4. 3 „Lernen am Modell“
465 Ebd., S. 299
466 Ebd., S. 294
467 Cassirer, E. (1989), S. 39
468 Ebd., S. 24
469 Rousseau, J. – J. (1971), S. 290
470 Ebd., S. 290
471 Ebd., S. 290
472 Ebd., S. 292 Fußnote
473 Ebd., S. 292
474 Ebd., S. 293
475 Rousseau, J. – J. (1971), S. 293
476 Hossenfelder, M. (1985), S. 46
477 Vgl. Cassirer, E. (1989), S. 69
478 Vgl. Rousseau, J. – J. (1971), S. 300
479 Ebd., S. 303
480 Ebd., S. 313
481 Ebd., S. 314
482 Vgl. ebd., S. 314
483 Ebd., S. 295
484 Ebd., S. 318
485 Ebd., S. 331
486 Vgl. ebd., S. 270
487 Vgl. ebd., S. 270
488 Ebd., S. 270
489 Vgl. ebd., S. 333
490 Birr – Chaarana, E. (1993), S. 134
491 Rousseau, J. – J. (1971), S. 447
492 Aulke, R. (2000), S. 89
493 Birr – Chaarana, E. (1993), S. 130
494 Rousseau, J. – J. (1971), S. 275
495 s. auch Punkt 2.3 „Die Kindheit als glückliche Zeit“
496 Rousseau, J. – J. (1971), S. 335
497 Vgl. dazu Lauener, H. (1981)
498 Rudolf, G. (1969), S. 53
499 Ebd., S. 32
500 Ebd., S. 34
Zunächst wird Rousseaus Entwicklungstheorie präsentiert und erläutert, indem speziell auf verschiedene Erziehungsgrundlagen in den unterschiedlichen Entwicklungsstufen eingegangen wird. Dabei spielt natürlich auch der Erzieher und die Kindheit an sich eine wichtige Rolle.
Auch die Erziehung der Mädchen und das Problem des Spannungsfeldes zwischen Individuum und Gesellschaft wird in diesem Kapitel dargelegt. Der nachfolgende Teil wird die Faktoren behandeln, die seine Theorie beeinflusst haben. Dazu gehören auch Rousseaus persönliche Erfahrungen, die ebenfalls als Einflussfaktor auf seine Entwicklungstheorie gesehen werden können. Daneben spielen aber auch bemerkenswerte Persönlichkeiten und Personen wie Locke, Madame Francoise – Louise de Warens oder Thérèse Levasseur eine entscheidende Rolle. Besonderes Gewicht wird dabei auf biographische, zeitgenössische, religiöse bzw. philosophische und medizinische Faktoren gelegt. Es können verständlicherweise jedoch im Rahmen dieser Arbeit nicht alle möglichen Einflussfaktoren berücksichtigt werden. Weiterhin soll versucht werden, Kritik an Rousseaus Entwicklungstheorie im Hinblick auf die heutige Zeit zu üben. Am Ende wird eine Zusammenfassung die wichtigsten Ergebnisse aufzeigen.
2. Grundlagen und zentrale Aspekte der Entwicklungstheorie
Rousseaus „Emil oder über die Erziehung“ ist in fünf Bücher eingeteilt, wobei jedes Buch einer bestimmten Entwicklungsstufe entspricht. Die Entwicklung endet im fünften und letzten Buch. 7 Dabei bilden das erste und zweite Buch eine Einheit, denn sie schildern die Phase der Kindheit von 0 bis 12 Jahren. In dieser Zeit geht es in erster Linie um die Autonomie des Individuums und das Verhältnis des Kindes zur Welt ist rein sachlicher Natur. Das dritte Buch, das den Übergang zur Pubertät im Alter von 12 bis 15 Jahren beschreibt, ist vor allem durch einen Kräfteüberschuss des Kindes gekennzeichnet und wird zur Aneignung der Fähigkeit genutzt, sich bei Bedarf Kenntnisse und Fertigkeiten erwerben zu können.
Die darauf folgende Jugendzeit von 15 bis 25 Jahren wird im vierten und fünften Buch dargestellt. Sie verlangt eine totale Wandlung vom Erzieher. Jetzt muss alles völlig anders sein als in der Kindheit, denn das Verhältnis des Jugendlichen zur Welt ist nun moralisch geprägt, weil seine Welt die Gesellschaft ist. „Das ist die zweite Geburt, von der ich gesprochen habe. Jetzt erwacht der Mann zum wirklichen Leben. Jetzt bleibt ihm nichts Menschliches mehr fremd. Unsere Sorgen waren bisher nur Kinderspiel, jetzt gewinnen sie größte Bedeutung. In diesem Zeitraum, in dem gewöhnlich die Erziehung abgeschlossen wird, beginnt unsere erst richtig.“ 8 Insgesamt lassen sich also zwei große Stufen menschlicher Existenz erkennen, die nicht direkt aufeinander folgen, sondern sich überlagern. Die zweite Stufe setzt die erste voraus, denn bevor der Mensch fühlen und lieben kann, muss er handeln und denken lernen. 9 Dabei muss er Selbstständigkeit und Stärke erlangen, insbesondere die Stärke über sich selbst, die das eigentliche Glück bedeutet. Wenn der Mensch nur das will, was er kann und nur das kann, was er will, ist er nach Rousseau glücklich. „Der Mensch muss erst in sich selbst das klare und feste Gesetz gefunden haben, ehe er nach den Gesetzen der Welt, der äußeren Gegenstände, fragt und forscht.“ 10 Im vierten Buch, das durch das Glaubensbekenntnis in zwei Abschnitte unterteilt wird, gewinnt Emil eine realistische Kenntnis der Menschen – vor dem Bekenntnis durch Historie in der bloßen Vorstellung, danach durch den wirklichen Eintritt in die Gesellschaft. Das fünfte Buch schließlich, welches Emils Liebe, Verlöbnis und Heirat mit Sophie beschreibt, ist nicht etwa überflüssige Zugabe, sondern eigentlicher Ziel- und Höhepunkt von Emils Entwicklung.
„Schon die Einleitung des „Emil“ nimmt den Kampf gegen die herrschende Erziehung auf, indem sie feststellt, dass die gegenwärtig gebräuchliche Erziehungsweise verwerflich sei. Nichts ist wichtiger als die Kunst, Menschen zu bilden. Und doch fehlt es überall an Einsicht und an Methoden, die einer naturgemäßen Menschenbildung entsprechend wären.“ 11 Jean – Jacques Rousseau erkannte zwar das Problem, ein Kind zu erziehen und die Schwierigkeiten, die daraus resultieren, aber er fühlte sich der Aufgabe selber nicht gewachsen, einen Menschen heranzubilden und gab sogar seine Schwäche zu. „Da ich nicht die nützliche Aufgabe übernehmen kann, versuche ich mich an der leichtesten: nach dem Beispiel vieler anderer lege ich die Hand nicht ans Werk, sondern greife zur Feder.“ 12 Rousseau präsentiert sich bereits durch diese Äußerung eher als „Mensch“. Er möchte einen Erziehungsplan vorstellen, aber da die praxisorientierte Erziehung für ihn eine sehr große Herausforderung ist, der er sich nicht stellen möchte, versucht er durch seine Theorie, der Pädagogik ein Werk zum Nachdenken und Prüfen der damaligen – vielleicht auch heutigen - Erziehungsmethoden zu geben: „Emil oder über die Erziehung“. Er wählt bewusst einen aus reichen Verhältnissen stammenden Schüler, der adelig ist, da er der Meinung ist, dass Arme ohnehin zum Menschen werden können und ein Reicher dagegen zur Zeit eine falsche Erziehung erhält. „Der Arme braucht keine Erziehung; (...). Der Reiche hingegen erhält schon durch seinen Stand eine Erziehung, die ihm für sich selbst und für die Gesellschaft am wenigsten nützt. (...). Wählen wir also einen reichen Zögling, dann können wir sicher sein, einen Menschen mehr erzogen zu haben, während der Arme aus sich selbst Mensch werden kann.“ 13 Diese Erziehung basiert auf verschiedenen Grundlagen.
(1. & 2. Buch)
Einige von Rousseaus Grundlagen bezüglich seiner Entwicklungstheorie mögen zunächst sehr kontradiktorisch erscheinen, erweisen sich aber im weiteren Verlauf als logisch. Andere hingegen lassen sich von vornherein leicht nachvollziehen.
2.1.1 Erziehungsziel: Von der Schwäche zur Stärke
Die Grundlagen von Rousseaus Entwicklungstheorie beinhalten als einen zentralen Aspekt: „Stärke“. „Wir werden schwach geboren und brauchen die Stärke. Wir haben nichts und brauchen Hilfe; wir wissen nichts und brauchen Vernunft. Was uns bei der Geburt fehlt und was wir als Erwachsene brauchen, das gibt uns die Erziehung.“ 14 Ein Kind verfügt zwar ab seiner Geburt über die Fähigkeit zu lernen, aber das Neugeborene empfindet zuerst sein eigenes Dasein nicht, seine Bewegungen sind mechanisch, unbewusst und willenlos. „Die Naturgemäße Erziehung muss beginnen beim Eintritt des Kindes in die Welt.“ 15 Entscheidend ist hier, dass es über unbegrenzte Entwicklungsmöglichkeiten verfügt. Deshalb sollte die Erziehung eines Kindes ab der Geburt beginnen. 16 Sie ist dafür da, den Menschen dazu zu befähigen, sich zu verselbstständigen. Der Mensch besitzt zwar die Lernmöglichkeit, aber das Lernen an sich ist nur realisierbar, wenn er stark ist. Das Kind, das sich z.B. nicht bewegt, kann nicht explorieren, d. h. es muss zuerst Stärke spüren und aufweisen, damit es seinen Horizont erweitern kann. Es sollte zuerst Erfahrungen machen, bevor die Belehrung folgt. Seine ersten Eindrücke sind Empfindungen wie z.B. Lust oder Schmerz und bilden die Bausteine seiner Erkenntnisse.
„Der Körper muss Lebhaftigkeit besitzen, um der Seele zu gehorchen; je schwächer er ist, desto mehr befiehlt er.“ 17 Wenn ein Baby z.B. weint, obwohl es nicht krank ist, und man der Auffassung ist, seine Grundbedürfnisse, wie Hunger, Durst, Sauberkeit, Aufmerksamkeit, etc. befriedigt zu haben, sollte man nicht unbedingt immer sofort „springen“ und diesem Verhalten Vorschub leisten. So könnte man einen Grundfehler in der Erziehung begehen, nämlich Gewohnheiten entstehen lassen, die es eigentlich zu vermeiden gilt.
2.1.2 Vermeidung von Gewohnheiten als Struktur der Erziehung
„Das große Thema, mit dem sich die Erziehung zu befassen hat, ist die Frage, welche Gewohnheiten man entwickeln soll; daher hüte man sich, in diesem wie in allen anderen Fällen, etwas zur Gewohnheit werden zu lassen, dessen Ausübung man nicht fortgesetzt und gesteigert haben will.“ 18 Entscheidend für die Entwicklung ist es nach Rousseau u.a., dass man zwar die Bedürfnisse eines Kindes befriedigt, nicht aber unnütze Gewohnheiten entstehen lässt. Zwar lässt sich kein direkter Einfluss – zumindest im Rahmen dieser Arbeit – erarbeiten, die sachlichen Parallelen sind jedoch so auffallend, dass es legitim erscheint, an dieser Stelle auf Thomas von Aquin zu verweisen. Schon Thomas von Aquin bezeichnet die Gewohnheit als eine „zweite Natur“ des Menschen, und dadurch auch als „Quelle der Lust.“ Auch Rousseau verwendet diese Formulierung und behauptet: „Die Gewohnheit wird also zur zweiten Natur.“ 19 „Zur ‚zweiten Natur’ rechnet von Aquin z.B. alle erworbenen (intellektuellen und sittlichen) Tugenden, deren Erwerb Übung, wiederholende Aneignung und Gewöhnung verlangt.“ 20 Man wird nicht durch die Internalisierung von Gewohnheiten stark, sondern dadurch, dass man lernt, selbst- und eigenständig zu denken und auch danach zu handeln. Diesbezüglich kann behauptet werden, dass die Erziehung darauf konzentriert war, die Gewohnheiten zu internalisieren, denn dies wird – wie bereits erwähnt – als eine „zweite Natur“ betrachtet. Die Gewohnheit wurde bis dahin als alleiniger Inhalt der Pädagogik gesehen, bis Rousseau dies in seinem Werk „Emil oder über die Erziehung“ scharf kritisiert. Dies zeigt sich weiterhin daran, dass auch Montaigne ihre „Macht“ erkennt und sie behandelt. „Die Gewohnheiten sagen etwas Entscheidendes über den Menschen als solchen aus (...).“ 21 Die Gewohnheit übt eine extreme Macht auf die Natur des Menschen aus. „Die Macht der Gewohnheit rührt daher, dass der Mensch in Gewohnheiten groß wird und die ‚zweite Natur’ von der ‚Natur’ nicht mehr zu trennen vermag.“ 22 Für Montaigne umfasst die Gewohnheit einfach alles. Die Gewohnheit ist eine alte Thematik in der Pädagogik, denn „(...) so schöpft er [Montaigne] vor allem in seinen Äußerungen über die Sitten und Gewohnheiten aus Herodot, Plutarch, Sextus Empiricus, Xenophon, Valerius Maximus.“ 23 Auch Aristoteles äußert sich hinsichtlich der Gewohnheit nicht positiv und dies sollte in der Pädagogik als Warnung genommen werden. „Die krankhaften Zustände ergeben sich entweder von Natur oder durch Gewöhnung, wie das Ausreißen der Haare, das Abbeißen der Nägel, das Essen von Kohle und Erde und dazu auch die Knabenliebe; sie entsteht bei den einen von Natur, bei den anderen aus Gewohnheit, wie bei denen, die schon als Kinder geschändet worden sind.“ 24 Es ist aus pädagogischer Sicht von großer Wichtigkeit bei der Entwicklung eines Kindes darauf zu achten, dass keine Gewohnheiten entstehen, denn „(...) es gibt ja schlechterdings nichts für den Menschen, das nicht durch die dem Menschen eigene Gewohnheitsbildung in einem vorbestimmten Licht erscheinen würde.“ 25 Diese Gewohnheiten, die Rousseau als schlechte Eigenschaft bezeichnet, beziehen sich auf viele verschiedene menschliche Bereiche. So sollte z. B. ein Kind nicht immer zu der selben Zeit essen, weil es sonst aus Gewohnheit und nicht aus seinem Bedürfnis heraus handeln wird. D.h. es sollte nur dann essen, wenn es Hunger hat, nicht aber weil „Essenszeit“ ist. „Die einzige Gewohnheit, die ein Kind annehmen darf, ist die, keine anzunehmen.“ 26
Ausgenommen davon sind naturgemäße Gewohnheiten. Darunter ist zu verstehen, dass das Kind lernt, nach seinem Willen und körperlichen Möglichkeiten zu handeln. Andererseits muss sich das Kind an Abwechslung „gewöhnen“. Dies bezieht sich nicht nur auf unterschiedliche Essens- und Schlafzeiten, sondern im Prinzip auf vieles, insbesondere die Umgebung des Kindes. Diese sollte nach Möglichkeit immer neu und abwechslungsreich gestaltet werden sowie auch hässliche, abstoßende und seltsame Gegenstände beinhalten, damit das Kind lernt, sich daran zu „gewöhnen“ und sie ohne Furcht wahrzunehmen. Ein Kind, das in einer solchen Umgebung aufwächst, wird z.B. keine Angst vor Menschen anderer Hautfarbe, Dingen oder auch Tieren haben. Auf ähnliche Weise kann man auch die Angst vor lauten Geräuschen oder vor dem Anblick schrecklicher Masken unterbinden.
2.1.3 Bewegung als Entwicklungsfaktor
Ein weiterer Aspekt, der bei der Entwicklung von Kindern oft nicht genug beachtet wird, ist die Bewegung, denn „(...) das neugeborene Kind muss seine Gliedmaßen ausstrecken und frei bewegen können, wenigstens eben so frei und noch freier als da es in dem schlüpfrigen Wasser ungehindert in seiner Mutter Schoße schwamm, und auf und nieder zappelte. Hielt der Herr der Natur schon da für gut, dass der kleine Mensch seiner Gliedmaßen sich frei und ungehindert bedienen sollte, um wie viel mehr wird es wohl sein Wille sein, dass das Kind nach seinem Eintritte in die Welt eine höhere Stufe der Freiheit besteige, nicht aber in so harte Gefangenschaft gerate.“ 27 Die Menschen brauchen Bewegung so wie die Pflanzen Wasser, Licht und Liebe brauchen. Es kann kein Leben ohne Bewegung geben und insbesondere Kinder brauchen aufgrund ihrer Konstitution viel Bewegung, nicht nur damit sie explorieren, sondern weil sie sich nur dadurch körperlich und geistig weiterentwickeln können. Da das Kind anfänglich noch nicht zwischen nah und fern unterscheiden kann, bedarf es der Bewegung, durch die es eine räumliche Dimension erlangt und seinen Horizont erweitert.
Die Bewegung ist auch insofern sehr wichtig, da das Kind nur über geringe Ausdrucksmöglichkeiten verfügt. Sollten seine Bedürfnisse nicht rechtzeitig befriedigt werden, so reagiert es mit Schreien oder Weinen. Unbehagen jeder Art wie z.B. Hunger oder Kälte wird durch Weinen artikuliert. Dies wird natürlich später durch die Sprache ersetzt, denn „(...) wenn die Kinder zu sprechen beginnen, weinen sie weniger.“ 28 Die Gebärden bzw. der Gesichtsausdruck eines Kindes spielen eine wichtige Rolle und geben im Vergleich zu den anderen Ausdrucksmöglichkeiten, die sichersten Hinweise darauf, was das Kind mitteilen möchte. Es ist unvermeidlich, dass ein Kind weint bzw. schreit, denn dies ist wie schon erwähnt, eine „normale“ Ausdrucksweise im nichtsprachlichen Stadium der Entwicklung eines Kindes. Aber „Solange Kinder nur an Dingen und niemals am Willen anderer Widerstand finden, werden sie weder widerspenstig noch jähzornig, und sie bleiben auch gesünder.“ 29 Darunter ist zu verstehen, dass Erwachsene den Kindern keine künstlichen Grenzen setzen dürfen. Das Kind wird – wie auch Erwachsene – natürliche Grenzen leichter erkennen und akzeptieren. Dies führt u.a. dazu, dass auch die Entwicklung des Kindes in vieler Hinsicht positiver verläuft, da es sich nicht ständigen Machtkämpfen mit Erwachsenen aussetzen muss. Deshalb darf man den Kindern „nicht zuwiderhandeln“.
Neben der Bewegung spielen auch die Sinne und ihre Entwicklung bzw. ihre Schulung eine besonders wichtige Rolle.
2.1.4 Die Bedeutung der Sinnesschulung
Kinder besitzen weder Stärke noch Vernunft, wie es in den meisten Fällen bei Erwachsenen der Fall ist. 30 Die Sinne sind die ersten Kanäle, die ihnen den Kontakt mit der Welt ermöglichen. D.h. die Kinder müssen also die Fähigkeit entwickeln, ihre Sinne schulen zu können. Diese Schulung der Sinne erfolgt einerseits, indem man versucht, seine Sinne zu gebrauchen, andererseits indem man beigebracht bekommt, durch die Sinne, das Empfinden zu lernen, das Einfühlungsvermögen zu entwickeln sowie die Übereinstimmung mit der Natur zu spüren und zu erleben. 31 Dadurch ist man in späteren Lebensabschnitten in der Lage, mit Hilfe der Sinne nicht nur urteilen zu können, sondern auch durch sie Perspektiven zu übernehmen. 32 Das Gefühl spielt eine große Rolle bei diesem Prozess. Gefühle sind da, um uns alle möglichen Gefahren zu signalisieren und vor ihnen zu warnen. Dies ist sowohl kultur- als auch traditionsunabhängig. 33
Das Verhalten eines Blinden sowie seine alltäglichen Bewegungen sind klare Beispiele dafür, dass die Sinne von großer Relevanz in unserem Leben sind. Der Blinde ist gezwungen, durch seine Gefühle, Urteile zu fällen, deshalb bedarf es bei ihm einer noch sicheren und feineren Schulung seiner Sinne. 34 „Die wirklich Blinden finden sich immer zurecht, während wir bei Nacht keinen Schritt zu tun wagen. Man kann sich ja Licht machen, wird man sagen. Ja, ja, die Technik! Woher wisst ihr, dass sie uns gerade dann nicht fehlt! Mir ist es lieber, dass Emil die Augen in den Fingerspitzen hat als im Kerzenladen.“ 35 Es sollte demnach bei der Schulung der Sinne insbesondere der Tastsinn nicht vernachlässigt werden. Die Wichtigkeit für die Schulung der Sinne zeigt sich beispielsweise bei Jean – Jacques Rousseau, indem er erkannte, dass jedes Lernen durch Sinneserfahrung beginnt. Er setzt sogar seinen Akzent darauf, dass Erziehung und Lernen mit den Sinnen beginnt. „Da der Mensch alles, was er begreift, nur durch die Sinne begreift, so ist die erste Vernunft des Menschen eine sinnenhafte Vernunft; sie bildet die Grundlage der intellektuellen Vernunft. Unsere ersten Philosophielehrer sind unsere Füße, unsere Hände, unsere Augen.“ 36
Ein Kind, das das Feuer nur von Erzählungen kennt, wird weder seinen Nutzen noch seine Gefährlichkeit erfahren. Hier hilft nur die Selbsterfahrung, „(...) da unsere Sinne die ersten Werkzeuge unserer Erkenntnis sind (...).“ 37 Zu den fünf bekannten Sinnen kommt bei Rousseau noch ein sechster Sinn hinzu, den er „Gemeinsinn“ oder auch „gesunden Menschenverstand“ nennt. Diesem sechsten Sinn ist kein bestimmtes Organ zuzuordnen, „(...) er hat seinen Sitz im Gehirn und seine rein inneren Wahrnehmungen heißen Begriffe oder Ideen.“ 38 Diese Begriffe wiederum entstehen durch das Zusammenfassen mehrerer Wahrnehmungen. Darin zeigt sich nach Rousseau, die sensitive bzw. kindliche Vernunft. 39 Die Umgebung, in der das Kind aufwächst, übt selbstverständlich auch einen starken Einfluss auf die Entwicklung des Kindes aus.
2.1.5 Die Umgebung als Grundbedingung natürlicher Entwicklung
„(...) Der Mensch ist »größtenteils sein eigenes Werk« oder : der »Geist« ist des Menschen »eigener Führer« (...) der Erwachsene [soll] die alles bewirkende Erziehung vernunftgemäß und aufgrund der Bedingungen des Kindseins gestalten. Sie soll vom »Vernünftigen« und »Natürlichen« ausgehen.“ 40 Die Entwicklung eines Menschen ist u. a. natürlich auch von seiner Umgebung abhängig. Die Erziehung darf deshalb nicht als eine Kunst gesehen werden, weil ihr Gelingen nicht nur von einem bestimmten Individuum abhängt. „Sieht man die Erziehung als Kunst an, so scheint ein voller Erfolg unmöglich zu sein, weil das nötige Zusammenwirken von Natur, Dingen und Menschen nicht von uns abhängt.“ 41 Insbesondere in Städten beschleunigt die Gesellschaft z.B. die Entwicklung der Leidenschaften. „Städte sind das Grab des Menschen. In wenigen Generationen sterben die Familien aus oder entarten. Man muss sie erneuern, und diese Erneuerung kommt immer vom Land. Schickt also eure Kinder auf das Land, damit sie sich dort gewissermaßen selber erneuern und inmitten der Felder die Kräfte holen, die man in der ungesunden Stadtluft verliert.“ 42 Diesbezüglich ist auch „La Nouvelle Héloise“ in einer systematischen Opposition zwischen dem natürlichen Leben auf dem Land und dem korrupten Leben der Großstädten konstruiert. 43 „Ein gestutzter, geschliffener und zivilisierter Junge, der nur darauf wartet, die verfrühten Lehren, die er empfangen hat, anzuwenden, täuscht sich nie über den Zeitpunkt, wo er die Möglichkeit dazu hat. Statt zu warten, beschleunigt er ihn.“ 44 Ein solcher Junge weiß bereits über den Gegenstand seiner Wünsche Bescheid, bevor er überhaupt über die Empfindung der Begierde verfügt. „Die derzeitige, nicht naturgemäße Form der Gesellschaft hindert das Kind an seiner natürlichen Menschenwerdung.“ 45 Es ist darum wichtig, den Fortschritt der Einsichten gleichermaßen zu beschleunigen, damit das Kind lernt, mit Leidenschaften umzugehen. Nur so kann eine gleichmäßige Entwicklung gefördert werden, denn der Mensch ist keine Maschine, die aus verschiedenen Teilen besteht, sondern als Ganzes zu sehen. 46
Durch diese Einflüsse würde sich das Kind einseitig entwickeln, wenn der Erzieher, der die Rolle eines Lebensbegleiters spielt, nicht darauf achtet, dass das Kind zu der Einsicht gelangt, dass es sich nicht nur damit beschäftigen darf und sich von allen äußeren Strömungen leiten lässt, denn dies ist sowohl für seine körperliche als auch für seine seelische Entfaltung absolut ungesund. Eine gesunde Entwicklung ist dahingegen stark von der Umgebung abhängig, die möglichst natürlich gestaltet werden muss. Und die Natürlichkeit gehört für Rousseau zu den wichtigsten Erziehungsgrundlagen.
2.1.6 Natürlichkeit als Erziehungsnorm
Die Natur ist bei Rousseau als Norm zu betrachten, denn dadurch ist eine angemessene störungsfreie Entwicklung möglich. „ROUSSEAU (sic) durchdenkt den neuzeitlichen Begriff der Natur in radikaler Weise. Sicher kamen ihm hierbei stoische Überlieferung und MONTAIGNES (sic) Ansatz zu Hilfe.“ 47 Eine natürliche Lebensweise beinhaltet außerdem Kleidung, die einem ausreichend Bewegungsfreiheit lässt, sowie viel Schlaf. Das Kind sollte vor allem mit der Sonne zu Bett gehen und mit ihr aufstehen. Durch diesen natürlichen Rhythmus erhält man einen natürlichen Tagesablauf. Es handelt sich hierbei aber nicht um Gewohnheit, denn das Kind passt sich den natürlichen Gegebenheiten an und entwickelt keine gewohnheitsmäßigen Eigenarten. Es wird trotzdem fähig sein, über dem „Gesetz der Natur“ zu stehen, „(...) spät schlafen zu gehen, früh aufzustehen, plötzlich geweckt zu werden und ganze Nächte aufzubleiben.“ 48
Es wird immer wieder der Begriff „Natur“ in Rousseaus Erziehungsvorstellungen auftauchen. „Den Begriff einer nicht mehr teleologisch normierten Bestimmung des Menschen entwarf ROUSSEAU(sic) im »Zweiten Diskurs« (1755) und im »Emile« (1762), als er feststellte, das Ziel der Erziehung sei nicht durch die Gewohnheit der Gesellschaft oder eines Standes festgelegt, sondern die unbestimmte, offene und sich entwickelnde menschliche »Natur selbst« (ROUSSEAU 1762, S. 11; siehe hierzu BENNER/BRÜGGEN 1996) (sic).“ 49 Er setzt seinen Akzent bezüglich der Erziehung und Entwicklung auf die Natürlichkeit des Menschen, denn „(...) die Natürlichkeit macht die ursprüngliche Verfassung des Menschen aus.“ 50 Der Mensch bedarf im Laufe seines Lebens der Erziehung, um überlebensfähig zu werden und „(...) nach meiner Meinung ist der am besten erzogen, der die Freuden und Leiden dieses Lebens am besten zu ertragen vermag. Daraus folgt, dass die wahre Erziehung weniger vorschreibt als praktisch übt.“ 51 Menschen erwerben diese Fähigkeit durch drei „Lehrer“: die Natur, die Dinge und andere Menschen, da die Erziehung den Menschen ergänzen muss. Diese drei „Lehrer“ sind Rousseaus Erziehungsgrundsätze. „Die Natur oder die Menschen oder die Dinge erziehen uns.“ 52
Die Erziehung durch die Natur ist die innere Entwicklung unserer Fähigkeiten, unserer Organe und Kräfte. Die Art und Weise wie wir beigebracht bekommen, diese Entwicklung zu nutzen ist die Erziehung durch die Menschen. Die Erziehung durch die Dinge äußert sich, indem wir unsere eigene Erfahrung mit Gegenständen machen, die unsere Aufmerksamkeit wecken. Die Erziehung des Menschen wird durch diese drei Lehrmeister geprägt. Wenn aber ein Widerspruch zwischen diesen drei „Lehrern“ besteht, wird man immer uneins mit sich selbst sein und es kommt selbstverständlich oft zu Widersprüchen. Die Erziehung durch die Natur und die Dinge ist nur in gewisser Hinsicht bzw. nur bedingt von Menschen abhängig. Nur die Erziehung durch den Menschen ist die Form, für die der Mensch selbst verantwortlich bzw. der er Herr ist. Dies betrifft sowohl das Kind als auch seinen Erzieher gleichermaßen, denn das Ziel einer Erziehung kann nur erreicht werden, wenn das Kind - das aktive Subjekt - die äußeren Einflüsse seines Erziehers zulässt, „(...) denn Kinder sind, wie ich schon sagte, frühzeitig darauf bedacht, Schwächen an Erziehern zu entdecken. Diese Neigung führt zur Bosheit, entspringt ihr aber nicht. Sie kommt vielmehr aus dem Bedürfnis, eine lästige Autorität auszuschalten.“ 53
Das Ziel einer Erziehung nach Rousseau ist die Natur selbst, d.h. die Bildung des wahren Menschen. „Es ist das Ziel der Natur selber; das habe ich eben bewiesen. Da die drei Faktoren [Dinge, Menschen und Natur] aber zusammenwirken müssen, wenn die Erziehung gelingen soll, so müssen wir die beiden anderen nach dem Faktor ausrichten, über den wir nichts vermögen. Dazu müssen wir das unklare Wort Natur erst definieren versuchen.“ 54 Unter Natur versteht er nicht die Gewohnheit, sondern den Einklang des Denkens und Handelns eines Menschen. „Der natürliche Mensch ist der Mensch minus aller sozialen und gesellschaftlichen Bindungen und Entfremdungen.“ 55
Die Erziehung ist zwar eine Sache der Gewohnheit, denn der Mensch übernimmt und internalisiert dadurch die Normen und Werte seiner Gesellschaft. Aber sobald sich die Lage ändert, verhält sich der Mensch anders. Genau dies ist die Natürlichkeit, die Echtheit des Menschen. „Unter gleichbleibenden Verhältnissen behält man Gewohnheiten bei, die vielleicht unserer Natur am wenigstens entsprechen. Sobald die Verhältnisse sich ändern, hört der Zwang auf, und die Natur kehrt zurück.“ 56 Die Erziehung muss sich darauf konzentrieren, einen „homme naturel“ zu erziehen. „Das Leben des natürlichen Menschen ist nicht leicht, aber gerade darin liegt sein Vorteil, denn die Strenge dieses Lebens hält ihn robust.“ 57 Er fürchtet sich vor nichts, weil er sich auf eine ganz natürliche Art im alltäglichen Leben zurechtfindet. „Die Eigentlichkeit (sic) des natürlichen Menschen liegt darin, sich selbst zu eigen zu sein und mit sich selbst auszukommen. Er ist sozusagen substantielles Element, das die monadische Welt der vielen aufbaut, und zwar gerade dadurch, dass er in sich selbst ruht und doch mit dem Ganzen harmoniert.“ 58
„Rousseau groupe ensemble «franchise, liberté, sincérité, confiance« (3) comme étant les vertus de l’ homme naturel, que l’ on perd dans la société (4).“ 59 Ein natürlicher Mensch macht sich u.a. dadurch erkennbar, dass er nicht nur handelt, so wie er spricht, sondern dass sein Leben auch von Freude und Vergnügen begleitet wird. Man bemerkt in ihm eine vollkommene Einheit, denn er ist sich selbst treu. Man kann es auch etwa so artikulieren: „Der natürliche Mensch ruht in sich. Er ist eine Einheit und ein Ganzes; er bezieht sich nur auf sich oder seinesgleichen.“ 60 Diese Einheit wird nach Rousseau am besten durch eine ländliche Umgebung erreicht, denn das Leben auf dem Land ist in vieler Hinsicht der Natürlichkeit fördernd.
2.1.7 Landleben als natürliche Lebensweise
Zu einer gesunden guten Entwicklung gehört auch die ländliche Umgebung. Da die Landluft sauberer als die der Stadt ist, bevorzugt Rousseau das Leben auf dem Land, das überhaupt eine natürlichere Lebensweise ermöglicht. „Ehe der Körper sich an etwas gewöhnt, kann man ihn ohne Gefahr so gewöhnen, wie man will. Sobald er aber einmal eine gewisse Konsistenz erhalten hat, so bringt ihn jede Abänderung in Gefahr. Ein Kind kann Veränderungen ertragen, die kein Erwachsener aushalten würde. Man kann ein Kind abhärten, ohne sein Leben oder seine Gesundheit aufs Spiel zu setzen.“ 61 Auf dem Land haben die Kinder die Möglichkeit, natürlich abgehärtet zu werden, indem z.B. die Temperatur des Waschwassers allmählich immer mehr gesenkt wird, bis sich das Kind schließlich auch im Winter mit eiskaltem Wasser waschen wird ohne daran Schaden zu nehmen. Und „(...) um ihnen [den Kindern] keinen Schaden zuzufügen, muss dieser Übergang langsam, stufenweise und unmerklich vor sich gehen. Man kann sich, um genau zu messen, eines Thermometers bedienen.“ 62 Als Kind mit acht Jahren lernt Rousseau bereits das Landleben kennen und ist fasziniert davon, da er die Vorteile dieses Lebens am eigenen Leib erfährt. „Dieser Aufenthalt auf dem Lande kräftigte die Gesundheit des schwächlichen Kindes und in Bossey mag auch Rousseau die freie Natur erstmals liebgewonnen haben.“ 63 Das Landleben ist im Vergleich mit dem Stadtleben nicht nur gesund, sondern es ermöglicht auch ein einfaches gesundes Leben und die Gesundheit eines Kindes ist natürlich auch von der Ernährung abhängig.
2.1.8 Ernährung als Grundlage für Entwicklung und Erziehung
Ein weiterer Aspekt bezüglich einer „guten“ gelingenden Entwicklung ist eine angemessene Ernährung. Eine „falsche“ Ernährung kann bereits Probleme in der Erziehung und Entwicklung des Kindes hervorrufen. Die richtige Ernährung ist so wichtig, dass sie sogar den Charakter prägt. Sie beginnt genauso wie die Erziehung mit der Geburt des Kindes. Die Mutter oder die Amme, die das Kind stillt, muss auf ihre Essgewohnheiten achten, denn dies ist nicht nur für den Charakter des Kindes entscheidend, sondern auch für seine Gesundheit relevant. Sie sollte weniger Fleisch, mehr Gemüse sowie reichliche, gehaltvolle Kost essen, aber keine plötzlichen Änderungen in den Essgewohnheiten vornehmen. Sie sollte nichts Gebratenes oder Geröstetes zu sich nehmen und vor allem keine Gewürze verwenden. Die Ernährung ist deshalb wichtig für die Entwicklung des Charakters eines Kindes, denn „(...) die Feinschmeckerei ist das Laster leerer Herzen. Die Seele eines Feinschmeckers sitzt im Gaumen. Er ist nur zum Essen geschaffen. In seiner stumpfen Unfähigkeit ist er nur bei Tisch am Platz. Er kann nur über Gerichte urteilen.“ 64 Die Nahrung sollte deshalb einfach und natürlich sein und vor allem den ursprünglichen Geschmack nicht verfälschen. So sind Kinder eigentlich gegenüber Fleisch gleichgültig eingestellt, aber durch die unnatürlichen Essgewohnheiten ihrer Erzieher werden sie ebenfalls dazu erzogen, Fleisch zu essen, obwohl „(...) Fleischesser im allgemeinen grausamer und blutrünstiger sind als die anderen Menschen.“ 65 Zwar wissen Kinder weder was gesund noch ungesund ist, aber sie verfügen instinktiv über die Fähigkeit, das „Richtige“ auszuwählen. Deshalb sollte man sie essen, laufen und spielen lassen, wie sie wollen, damit es nicht zu Verdauungs- oder Essstörungen kommen kann. In diesem Zusammenhang ist auch zu erwähnen, dass man ohnehin nur das essen sollte, was die Gegend und die Jahreszeit bietet, denn alles andere ist unnatürlich und u.U. auch ungesund. „Wenn ich ein Gericht vom Ende der Welt kosten möchte, so würde ich es, wie Apicius, lieber dort suchen, als es kommen lassen, denn auch den erlesensten Speisen fehlt immer eine Würze, die man nicht mitnehmen kann und die ihnen kein Koch geben kann: die Luft des Klimas, die sie erzeugt hat.“ 66 Ein Mensch, der in einem tropischen Land lebt, braucht beispielsweise keine Äpfel, Erdbeeren oder Sauerkraut, sondern er sollte eher ein bisschen salzig und scharf essen, damit er viel Flüssigkeit zu sich nehmen kann, was sein Organismus in dieser Umgebung braucht. Sollte dies von ihm nicht berücksichtigt werden, so lebt er selbstverständlich ungesund. „Wozu brauche ich mitten im Winter Kirschen und goldgelbe Melonen, wenn mein Gaumen weder Feuchtigkeit noch Erfrischung nötig hat?“ 67 Die beste Ernährung gewährt dem Kind ein Leben auf dem Lande, denn „(...) bei den Bauern ist der Brotschrank und der Obstgarten immer offen, aber weder die Kinder noch die Erwachsene wissen, was Verdauungsbeschwerden sind.“ 68 Das bedeutet auch, dass die Kinder jeder Zeit selbstständig entscheiden können, ob und wann sie Brot oder Obst essen wollen. In dieser Hinsicht kann das Landleben auch als Grundlage der zu erlangenden Selbstständigkeit betrachtet werden.
2.1.9 Selbstständigkeit als Ende der Erziehung
„Der einzige, der nach seinem Willen handelt, ist der, der nicht auf die Hilfe eines anderen angewiesen ist.“ 69 D.h., dass die menschliche Freiheit über allem steht. Dies bedeutet für Rousseau, dass ein freier Mensch nur das will, was er auch kann und erhebt diesen Gedanken zu seinem obersten Leitsatz, aus dem sich alle Erziehungsregeln ableiten lassen. 70
Es ist selbstverständlich, dass man darauf fixiert ist, sein Kind zu beschützen, denn „(...) man muss ihnen [den Kindern] helfen und in allem beistehen, was ihnen an Einsicht oder Kraft an dem ermangelt, was zu ihren körperlichen Bedürfnissen gehört.“ 71 Obwohl Rousseau dies in seinem zweiten Leitsatz postuliert, reicht es als Erziehungsaufgabe noch nicht aus, denn man muss dazu fähig sein, dem Kind als Menschen beizubringen, dass es sich selbst schützt, d.h. sich verselbständigt und unterschiedliche unangenehme Situationen dieses Lebens erträgt. Das Kind muss leben lernen und d.h. nicht nur atmen, sondern handeln, indem es seine Organe, Sinne und Fähigkeiten in Gebrauch nimmt. Es soll zwar Schwäche fühlen, aber nicht darunter leiden. Es soll ruhig abhängig sein, aber nicht gehorsam. Es soll selbstverständlich bitten, aber nicht befehlen bis zum Terrorisieren. Alle Menschen sollten nur auf die Grenzen der Natur stoßen, aber nicht auf die von anderen Menschen künstlich gesetzten, die z.B. ihre Macht demonstrieren wollen. Dadurch wird sich das Kind unterwerfen und zu einem künstlichen Geschöpf werden, das zwar gehorcht, aber keinen Sinn in dem sieht, was es tut. 72 Die einzige Moral, die man dem Kind beibringen sollte, ist die, niemals jemandem etwas Böses anzutun. Dabei ist es wichtig, darauf zu achten, dem Kind nicht zu verkünden, Gutes zu tun, denn dies könnte neue Probleme aufwerfen, weil dabei anderen Menschen geschadet werden kann. „Selbst das Gebot, Gutes zu tun, ist gefährlich, falsch und widersprüchlich (...). Auf Kosten von hundert Unglücklichen macht er [der Mensch] einen glücklich.“ 73 Überhaupt sollte man mit den Kindern eine leichte, deutliche Sprache sprechen, denn eine Überforderung diesbezüglich kann bereits zu Missverständnissen führen. „Die ersten Laute, die es [das Kind] von uns hört, sollten selten, leicht, deutlich und oft wiederholt sein. Die Wörter sollen nur Gegenstände bezeichnen, die man dem Kinde auch zeigen kann.“ 74 Der Wortschatz sollte deshalb eingeschränkt sein, weil das Kind nur dazu befähigt werden soll, das zu sagen, was es auch selber denken kann. So wird u.a. auch altkluges Gerede und Besserwisserei vermieden. Nach Rousseau wird die Konkretisierung der sprachlichen Entwicklung außerdem besser auf dem Lande erreicht, denn dort wird deutlicher und lauter gesprochen als in der Stadt. „Auf dem Land ist das anders. Eine Bäuerin ist nicht fortwährend um ihr Kind. Es muss daher das sehr deutlich und sehr laut aussprechen lernen, was es verstanden haben will.“ 75
Prinzipiell bedeutet dies, dass sich die Menschen auf dem Lande nach Rousseau sprachlich besser artikulieren als Menschen in der Stadt. Dies erscheint auf den ersten Blick paradox, denn man könnte vermuten, dass gerade in der Stadt die Sprache kultivierter und besser ausgebildet wäre, aber auch in dieser Hinsicht gilt die Inaktivität der Erziehung.
2.1.10 Inaktivität der Erziehung
Ansonsten sollte die Erziehung inaktiv sein, d.h. Kinder sollten ohne Vorschriften geleitet werden, sie sollten lernen, ohne darin die Absicht zu sehen, belehrt zu werden. Der „gute“ Erzieher braucht nichts zu tun, aber kann durch Nichtstun alle Erziehungsziele erreichen. Denn „Ihr habt mit Nichtstun begonnen und endet mit einem Erziehungswunder. Tut das Gegenteil vom Üblichen und ihr werdet fast immer das Richtige tun.“ 76
Das Geheimnis einer „besseren“ Erziehung ist es, Zeit zu verlieren, d.h., dass man in den ersten Jahren (0 – 12) keine Energie darauf verwendet, das Kind belehren zu wollen, sondern „(...) die erste Erziehung muss also rein negativ sein. Sie darf das Kind nicht in der Tugend und in der Wahrheit unterweisen, sondern sie muss das Herz vor Laster und den Verstand vor Irrtümern bewahren.“ 77 Das bedeutet, dass der Erzieher das Kind lediglich beobachten sollte und keinen Zwang ausüben darf, damit sich der Charakter des Kindes frei entfalten kann und dass er keine Belehrungen vornimmt und keine Strafen verhängt, weil das Kind nicht schuldfähig ist. Auch sollten keine Belohnungen ausgesetzt werden, um das Kind nicht habgierig zu machen. 78 Meistens versucht man beim Kind Gehorsam zu erreichen, indem man entweder Zwang ausübt bzw. Gewalt anwendet und Drohungen ausspricht oder indem man ihnen schmeichelt bzw. sie mit Versprechungen ködert. Beide Methoden sind nach Rousseaus Auffassung jedoch schlecht, denn „(...) man lehrt sie heucheln, sich verstellen und lügen, um belohnt zu werden oder Strafen zu entgehen.“ 79 Infolgedessen kann behauptet werden, dass die Lüge eines Kindes aus der Notwendigkeit entsteht, gehorchen zu müssen. 80
Bevor vom Kind Vernunft verlangt wird, sollte der Erzieher in erster Linie selbst vernünftig sein und die seelischen Kräfte des Kindes in Ruhe reifen lassen. Genauso wenig sollte das Kind gezwungen werden, sich entschuldigen oder extrem höflich sein zu müssen, denn dies führt dazu, „(...) dass sie [die Kinder] auf höfliche Weise herrschsüchtig werden;
(...) Diese Kinder können weder im Ton noch in den Wendungen bitten: wenn sie bitten, sind sie noch anmaßender als wenn sie befehlen, da sie noch sicherer sind, dass man ihnen gehorcht.“ 81 Das Kind internalisiert die „Zauberworte“ für seinen Erziehers oder seine Gesellschaft und verliert dadurch seine Natürlichkeit und seine Echtheit, da es sich nicht mehr im Einklang mit seinem eigenen Denken und Handeln befindet. Deshalb sollte jede Erziehung - wie schon erwähnt - kein anderes Ziel verfolgen als das Ziel der Natur selbst. Alle präventiven Maßnahmen müssen diesbezüglich mit den natürlichen Notwendigkeiten übereinstimmen.
2.1.11 Sachen statt Worte
Das Kind muss geschützt und gepflegt werden, da es das schwächste Glied ist, aber in den meisten Fällen werden Fehler seitens des Erziehers begangen, indem man dem Kind eine falsche Pflege zukommen lässt. Denn „(...) bald wiegt man es, um es zu beruhigen; bald droht man und schlägt es, um es zum Schweigen zu bringen. Entweder tun wir, was ihm gefällt, oder wir verlangen, was uns gefällt. Entweder wir unterwerfen uns seinen Launen, oder wir unterwerfen es unseren.“ 82 Der Erzieher zeigt sich unzufrieden, weil ihm das Kind nicht gehorcht bzw. seine Autorität nicht annimmt. Aber die Tatsache, dass er durch sein inkonsequentes Verhalten dafür zur Verantwortung zu ziehen wäre, blendet er völlig aus. Wünschenswert wäre es, wenn der Erzieher eine natürliche Autorität besäße, d.h. von anderen Menschen anerkannt und geschätzt würde. Sollte dies der Fall sein, akzeptiert auch das Kind auf natürliche Weise die Autorität seines Erziehers, ohne es zu merken. „Er [der Zögling] darf gar nicht auf den Gedanken kommen, dass ihr irgendeine Autorität über ihn beansprucht. Er braucht nur zu wissen, dass er schwach ist und ihr stark seid, dass er also notwendigerweise von euch abhängig ist. Das muss er wissen, lernen und fühlen.“ 83 Der Erzieher muss dazu in der Lage sein, das Kind zu leiten, indem er das Gesetz des „Möglichen“ und des „Unmöglichen“ anwendet, da jedes Kind eine „Naturnotwendigkeit“ eher akzeptiert als Vorschriften einer autoritären Person. So wird z.B. ein Kind, das nach Süßigkeiten verlangt, eher akzeptieren müssen, dass keine im Hause sind, als die Absage, dass diese für die Zähne schlecht seien. 84 Die Erziehung sollte dafür sorgen, dass das Kind nicht aus Zwang handelt, sondern aus Interesse. Es muss den Sinn und Zweck bzw. den Nutzen einer Sache erkennen, um angemessen reagieren zu können.
2.1.12 Nützlichkeit als Handlungsmotivation
Neben der Notwendigkeit spielt das Grundprinzip der Nützlichkeit eine entscheidende Rolle in Rousseaus Auffassung von Erziehung, denn „(...) sobald wir unserem Zögling den Begriff des Wortes nützlich vermittelt haben, haben wir ein weiteres, bedeutendes Mittel, um ihn zu erziehen.“ 85 Wenn das Kind realisiert, dass etwas für es nützlich ist, interessiert es sich auch dafür und schenkt dieser Sache, Situation, Handlung usw. seine volle Aufmerksamkeit. Somit wird es – etwa wie beim Spracherwerb – ohne besondere Mühe alles in sich aufnehmen und nicht mehr vergessen. Deshalb braucht man dem Kind auch keine Vorträge zu halten und lange Erklärungen abzugeben, die die Konzentration und Auffassungsgabe des Kindes nur überfordern, sondern sollte ihm den Sinn und Nutzen einer Sache konkret vor Augen führen und ihm so begreiflich machen, „(...) denn mit übertriebenen Moralisiren und Dogmatisiren (sic) werde die sittliche Natur des Kindes gefälscht, statt gesund fortentwickelt.“ 86 Jean – Jacques möchte Emil z.B. mit Geographie vertraut machen, schlägt ihm einen Spaziergang im Wald vor und beide verlaufen sich. Es ist Mittag und beide haben Hunger. Die Frage der Nützlichkeit von Geographie ist für Emil ganz wichtig geworden, weil er seinen Hunger nicht stillen kann, wenn er nicht den Weg nach Hause findet. Durch sein Vorwissen und Jean – Jacques’ Betreuung ist Emil in der Lage den Ort zu lokalisieren. Diese von ihm auf diese Weise gewonnenen Erkenntnisse wird er bis ans Lebensende behalten, da sie von elementarer Bedeutung für ihn waren. 87 Weil Kinder ohnehin nur das verstehen, was nützlich für sie ist, sollten sie auch nur das lernen. In diesem Zusammenhang lehnt Rousseau jede Form von Auswendiglernen sowie Bücher überhaupt in diesem Alter kategorisch ab. Jede moralische Vermittlung auf diesem Weg schlägt fehl, denn man erreicht in den meisten Fällen nur das Gegenteil vom Gewollten. So wird sich ein Kind z.B. bei der Fabel von „Fuchs und Rabe“ eher mit dem Fuchs identifizieren, da er der Erfolgreiche ist. Die eigentliche Moral, nicht auf Schmeicheleien hereinzufallen, lernt das Kind nicht, sondern selber zu schmeicheln, um sein Ziel zu erreichen. 88 Trotzdem wird Emil mit Sicherheit vor seinem 10. Lebensjahr das Schreiben und Lesen erlernt haben, denn er wird selbst ihre große Wichtigkeit sowie Nützlichkeit entdecken. Jedoch nicht mit Hilfe von Büchern, sondern anhand von an ihn gerichteten Briefen seines Vaters. Da Emil jemanden braucht, der ihm die Briefe vorliest, aber nicht immer jemand zur Stelle ist, wird vielleicht eine Einladung verpasst, sodass Emil selbst die Nützlichkeit des Lesens erkennt und den Wunsch sowie das Interesse hat, es selbst zu erlernen. 89 Ein weiteres Beispiel für die Bedeutung der Nützlichkeit bezüglich des Lernens lässt sich aus einem persönlichen Erlebnis von Rousseau erkennen. „Ich werde nie vergessen, wie ich in Turin einen jungen Mann getroffen habe, der als Kind das Verhältnis vom Umfang zur Fläche gelernt hatte, indem man ihm jeden Tag Waffeln zur Auswahl vorlegte, die verschiedene Figuren gleichen Umfangs darstellten. Der kleine Feinschmecker hatte die Kunst des Archimedes ausgeschöpft, nur um herauszufinden, an welcher Waffelfigur es am meisten zu essen gab.“ 90 Auch Emil lernt alles mit Hilfe von den Methoden der Notwendigkeit und der Nützlichkeit, ganz gleich, ob es sich dabei um Musik, Sport, Geometrie, Zeichnen oder sonst etwas handelt. 91 Diese Prinzipien allein reichen in der Entwicklung und im Erziehungs- und Lernprozess jedoch nicht aus, denn der Erzieher spielt in Rousseaus Entwicklungstheorie auch eine besondere Rolle.
2.2 Der Erzieher als dominante Figur
Die Erziehung ist eine reziproke Beziehung, die zwei Menschen gleichermaßen betrifft. Es muss eine enge Kooperation zwischen dem Erzieher und dem Kind herrschen, um das Gelingen der Erziehung nicht zu gefährden. Der Erzieher nimmt eine besondere Position in Rousseaus Theorie ein. „Ich kenne die Größe der Aufgaben eines Erziehers zu genau, so wie ich meine Unfähigkeit zu genau kenne, um jemals einen solchen Auftrag zu übernehmen, wer auch immer ihn mir gäbe.“ 92 Der Erzieher ist zwar passiv aber einflussreich. Es stellt sich als eine große Herausforderung dar, einen Menschen zu erziehen, deshalb setzt Rousseau voraus, dass ein Erzieher zuerst vorbildliche Eigenschaften haben muss und kein käuflicher Mensch sein darf. „Früher einmal habe ich mich hinreichend in diesem Beruf versucht, um zu wissen, dass ich dafür nicht tauge.“ 93 Die erste und einzige Kondition von Rousseau in Bezug auf Emils Erziehung zeigt deutlich, wie dominant und einflussreich der Erzieher im Erziehungsprozess ist.
„Er [Emil] braucht weder Vater noch Mutter. Ich übernehme alle ihre Pflichten und alle ihre Rechte. Er muss seine Eltern ehren, aber nur mir gehorchen.“ 94 Das Kind wird nach Rousseau in einer Beziehung erzogen, die der Verbundenheit von siamesischen Zwillingen gleicht, denn es ist von seinem Erzieher nicht nur abhängig, sondern auch unzertrennlich mit ihm verbunden, damit eine tiefe Gefühlsbindung entstehen kann. „Betrachten sie sich aber fürs Leben verbunden, so ist jedem an der Liebe des anderen gelegen; und schon dadurch werden sie einander wert.“ 95 Rousseau kommt es weniger auf die Belehrung als vielmehr auf die aktive Erarbeitung des Lebensnotwendigen an. Der Mensch wird bereits in dieser Erstlingsschrift als ein aktives Wesen beschrieben. 96 Das Wichtigste dabei ist vor allem, auf die Individualität zu achten, denn „Emile est élevé seul, loin du monde et des villes corrompues, et cette solitude champêtre est nécessaire – Rousseau ne cesse de le rappeler – à la réussite de l’éducation négative.“ 97 Diese Individualität ist insofern wichtig, um das Talent sowie die Begabung des Kindes zu entdecken und es in der natürlichen Richtung zu fördern. Diesbezüglich betont Locke z.B. „(...) dass man die Individualität des Zöglings erforschen und dann auf diese seine besonderen Fähigkeiten und Neigungen Erziehung und Unterricht fortbauen müsse.“ 98 Die isolierte Erziehung von Emil beschränkt sich nicht nur auf die ländliche Abgeschiedenheit, sondern weitgehend auch auf den Kontakt zu anderen Kindern, denn „Andere Kinder zur Gesellschaft seiner Kinder zuzulassen, ist ein Punkt von großer, von größter Wichtigkeit. (...) Der Eindruck von einer Stunde Gesellschaft bösartiger Kinder lässt sich kaum in etlichen Wochen bei euren Kindern wieder auslöschen, und öfters oder immer dergleichen verzogene Geschöpfe zuzulassen, heißt seine Kinder ohne Rettung zu Grunde richten.“ 99 Nach L’ Aminot wurde in „Nouvelle Héloise“ sogar betont, dass jedes Kind bei der Geburt sein eigenes Temperament mit sich bringt, das mit einer angemessenen Erziehung zu respektieren ist. 100 Sollte dies nicht berücksichtigt werden, mischt sich alles und diverse Talente werden so beim Kind einfach aus Unwissenheit gelöscht. Demzufolge kann ein Erzieher nur ein Kind erziehen, denn Zuneigung und totale Verbundenheit in der Beziehung spielen eine entscheidende Rolle.
Deshalb wählt Rousseau „(…) l’éducation d’ Emile comme solitaire pour faciliter l’exposé de son système, mais aussi parce qu’il est plus facile, dans la pratique, de s’occuper d’un seul enfant.“ 101 Der Erzieher und der zu Erziehende dürfen niemals ohne beiderseitiges Einverständnis getrennt werden, denn dies kann die Beziehung sehr beeinträchtigen und somit schwerwiegende Folgen nach sich ziehen. 102 Der Erzieher ist in Rousseaus Entwicklungstheorie eine wichtige und dominante Persönlichkeit. Er ist zwar immer im Hintergrund, übt aber indirekt einen großen Einfluss auf das Kind aus. 103 Selbst als Emil schon erwachsen ist und er kurz vor der Heirat mit Sophie steht, ist der Erzieher noch von enormer Bedeutung. Er wird der Vertraute der beiden jungen Leute und fungiert als deren Vermittler. 104 In diesem Zusammenhang wird auch Rousseaus träumerische Einstellung gegenüber dem Glück ganz deutlich, denn seiner Meinung nach ist es „(...) hundertmal süßer, dieses höchste Glück zu erhoffen, als es zu erlangen.“ 105 Und auch diese Einstellung, die nicht gerade typisch ist, wird von Emil aufgrund der starken Erzieherpersönlichkeit übernommen. Schließlich sorgt der Erzieher auch noch dafür, dass sich Emil und Sophie trotz ihrer großen Zuneigung für zwei Jahre trennen und ihre Liebe noch einmal auf die Probe stellen. In dieser Zeit soll Sophie erwachsenen werden und Emil soll wissen, was es heißt, ein Bürger zu sein. 106 Auch hier willigt Emil wieder ein. Sogar nach der Heirat gibt Rousseau den beiden noch Ratschläge und als er sich nach einigen Monaten zurückziehen will, ist es Emil, der ihn darum bittet, ihr Mentor auf Lebenszeit zu bleiben, denn es kündigt sich bei ihnen Nachwuchs an. Aus diesem Grund sagt Emil schließlich: „Solange ich lebe, werde ich sie nötig haben. Jetzt, wo meine Pflichten als Mann beginnen, habe ich Sie nötiger denn je.“ 107
Obwohl der Erzieher so dominant ist und Emil beherrscht - auch wenn dieser das oft nicht merkt, da der Erzieher seine Dominanz sehr gut versteckt - kann Emils Kindheit als glücklich bezeichnet werden.
2.3. Die Kindheit als glückliche Zeit
„Will man jemanden von dem Grauen der Finsternis heilen, so räsoniere man nicht mit ihm darüber, sondern führe ihn oft ins Finstere. Das wird mehr fruchten als alle Belehrungen.“ 108 Es sind also Erfahrungen, die das Kind braucht, um zu lernen. Alle frühzeitigen Erklärungen sind somit sinnlos und überflüssig. Aber ein Phänomen, dem man in der Erziehung immer wieder begegnet, ist die Verkennung der Kindheit. Oftmals soll aus dem Kind möglichst schnell ein Erwachsener gemacht werden. 109 Aber man sollte dem Kind seine Kindheit erhalten und es – solange es geht – Kind sein lassen, denn seine Kindheit sollte glücklich sein, indem es seine Freiheit genießen kann. „Dès le commencement, Emile parle de son enfance comme d’ une période de bonheur «précoce...(jours) passés dans la liberté, dans la joie, ainsi que dans l’ innocence». “ 110 Dies kann aber nur verwirklicht werden, wenn man das Kind nicht zu frühzeitig zur Vernunft erziehen will. Das Kind hat seine eigene Vernunft, die sich von den Erwachsenen massiv unterscheidet. Es hat selbstverständlich Wünsche sowie Bedürfnisse, die realisiert bzw. befriedigt werden sollten. Es ist nicht zu vergessen, dass sich das Kind auf dem Weg der Entwicklung befindet. Es hat seine Weltanschauung, sein Interesse und setzt seine Prioritäten, wie es ihm seine innere Stimme sagt. „Die Kindheit hat eine eigene Art zu sehen, zu denken und zu fühlen, und nichts ist unvernünftiger, als ihr unsere Art unterschieben zu wollen. (...) Sie [die Vernunft] bremst die Kraft und das Kind braucht diese Bremse nicht.“ 111 Eine glückliche Kindheit kann gewährleistet werden, wenn sich die Erziehung auf die kindlichen Bedürfnisse konzentriert und Rücksicht darauf nimmt, denn „(...) la joie et les plaisirs viennent d’ une conscience qui, étant innocente et franche, n’ a rien à cacher, bref, de la conscience de l’ homme naturel, cet homme naturel étant, pour Rousseau, une créature bonne de par sa nature même.“ 112 Die Kindheit ist so wichtig, dass sie den Charakter des Kindes stark prägt und ihn sogar bis zum Tode beeinflusst. Rousseau selbst z.B. konvertiert zum Katholizismus aus Liebe zu Madame de Warens, kehrt jedoch später zum Calvinismus, seiner ursprünglichen Religion, die seine Kindheit und seine Person geprägt hat, zurück.
„(...) le retour en arrière vers Genève et le calvinisme, destiné à effacer le souvenir des années au cours desquelles il [Rousseau] a joué le jeu du monde et du siècle (…).“ 113 Die Relevanz der Kindheit lässt sich aus einem weiteren Beispiel aus Rousseaus Leben erklären. Er sieht einen großen Zusammenhang zwischen seinem Erfolg von Dijon und seiner Kindheit. Dies ist ein Grund, um seine Kindheit bzw. die Einflüsse seiner Kindheit zu loben. „Cette nouvelle [de Dijon] réveilla toutes les idées qui me l’avaient dicté, les anima d’une nouvelle force, et acheva de mettre en fermentation dans mon cœur ce premier levain d’héroisme et de vertu que mon père et ma patrie, et Plutarque, y avaient mis dans mon enfance.“ 114 Darum fordert Rousseau : „Liebt die Kindheit, fördert ihre Spiele, ihre Freuden, ihr liebeswürdiges Wesen! (…) Lasst sie [die Kinder] sich des Lebens freuen, sobald sie es können. Sorgt dafür, das sie das Leben gekostet haben, ganz gleich, zu welcher Stunde Gott sie ruft.“ 115 Am Ende der Phase der Kindheit zeigt sich das Kind der Natur, das nach Rousseaus Grundlagen erzogen wurde in seinem ganzen Wesen offen und frei. Es ist „(...) weder übermutig noch eitel. Sein Kopf, der nicht über Bücher gebeugt war, fällt ihm nicht auf die Brust herab, und man braucht ihm nicht zu sagen: Kopf hoch! Weder Scham noch Furcht haben ihn ihm niedergebeugt. Machen wir ihm Platz in unserer Gesellschaft (...).“ 116 In der Gesellschaft wird das Kind mit der Realität auf eine andere Art konfrontiert, deshalb darf keine Zeit mehr vergeudet werden.
2.4 Entwicklung und Erziehungsgrundlagen in der Übergangszeit zur
Pubertät (3. Buch)
Die Übergangszeit zur Pubertät umfasst nach Rousseau das Alter vom 12. bis zum 15. Lebensjahr. Diese Phase ist durch einen Überschuss an Kräften gekennzeichnet, denn „(...) mit 12 oder 13 Jahren entwickeln sich die Kräfte des Kindes schneller als seine Bedürfnisse.“ 117 Gleichzeitig ist diese Phase am besten dafür geeignet, die Wissbegier des Kindes zu stillen. „Das ist also die Zeit der Arbeit, des Unterrichts, der Studien. Man sieht, dass nicht ich diese Wahl willkürlich getroffen habe: die Natur selbst zeigt sie an.“ 118 Das Prinzip des Zeitverlierens darf nun nicht mehr angewendet werden, denn man hat nur etwa drei kostbare Jahre, die intensiv genutzt werden können.
„Jetzt haben wir (...) nicht Zeit genug, um alles zu tun, was nützlich wäre.“ 119 An die Stelle der negativen Erziehung tritt nun „die negative Didaktik des Lernens“. 120 Das bedeutet, dass Rousseau als Lehrer inaktiv ist und nur Situationen schafft, aus denen Emil selbst lernt. Das Lernen, das diese Phase prägt, ist durch verschiedene Prinzipien gekennzeichnet, die im folgenden dargestellt werden soll.
2.4.1 Lernen, leben zu können als Erziehungsziel
„Alles, was ein Mensch zu sein hat, wird er genau so sein wie jeder andere auch; und wenn das Schicksal ihn zwingt, seinen Platz zu wechseln, er wird immer an seinem Platz sein.“ 121
Der Mensch soll durch dieses Prinzip überlebensfähig gemacht werden, und dadurch lernen, mit jeder Situation zurechtzukommen. Er erwirbt die Fähigkeit selbst- und eigenständig zu denken und zu handeln. Dies bezieht sich sowohl auf die Gegenwart als auch auf die Zukunft. D.h., es ist ganz gleich, wo der Mensch leben muss, er wird überleben. Rousseau nimmt für Emil diesbezüglich Robinson Crusoe als Vorbild, den das Schicksal zwingt, allein auf einer einsamen Insel als Schiffbrüchiger in einer anderen Lebenswelt unter völlig neuen Umständen überleben zu müssen. Dieses Buch von Daniel Defoe (1660 – 1731) ist das erste Buch, das Emil überhaupt liest. 122 Auch Emil soll in der Lage sein, immer alles selbst lösen zu können. Deshalb soll er u.a. auch ein nützliches Handwerk, wie z.B. die Tischlerei sowie andere Kunstfertigkeiten erwerben. 123 Dabei ist es von großer Bedeutung, dass die Lernsituation sich authentisch darstellt.
2.4.2 Authentizität der Lernsituationen
Die Situationen, aus denen der Mensch in dieser Phase unterschiedliche Erfahrungen erwirbt, sollten möglichst authentisch sein. D.h. sie dürfen weder absolut für ein Kind passend gemacht werden noch dürfen sie sein Fassungsvermögen übersteigen. Dabei sollte das Kind nicht im Mittelpunkt stehen, weil dies sonst Rousseaus Prinzip der „drei Lehrer“ (Natur, Dinge, Menschen) widersprechen würde. „Stünde andererseits nur die Sache im Mittelpunkt, und müsste das Kind, ungeachtet seiner Kräfte, sich ihr anpassen, so wäre weder dem Kind noch der Sache gedient.“ 124 Damit der Mensch auch auf seinem späteren Lebensweg überlebensfähig bleibt, muss man demnach den Mittelweg zwischen kindgemäßen und sachgemäßen Situationen finden. Nichtsdestotrotz sollte alles zu seiner Zeit geschehen, denn „(...) jetzt ist auch die Zeit gekommen, unseren Schüler nach und nach daran zu gewöhnen, einem und demselben Gegenstand eine anhaltende Aufmerksamkeit zu widmen. Doch soll sie sich nie auf Zwang, sondern immer auf Lust und Liebe stützen.“ 125 Neben der Authentizität ist auch das Lernen am Modell für Rousseau von großer Bedeutung.
2.4.3 Lernen am Modell
Es geht bei Rousseau nicht darum, dass Emil möglichst viel Wissen erwirbt, sondern darum, gründlich arbeiten zu können und zu wissen, wie man sich Wissen selbst erarbeitet. „Emil hat wenige Kenntnisse, aber diejenigen, die er hat, sind wirklich sein eigen. Er weiß nichts halb. Von den Dingen, die er weiß, die er gründlich weiß, ist das wichtigste, dass es vieles gibt, was er nicht weiß, aber eines Tages wissen kann; vieles, das andere wissen und das er niemals wissen wird, und unendlich vieles, was keiner jemals wissen wird.“ 126 Deshalb braucht der Mensch ein System. Sollte er es erwerben, so kann er sich „alles“ selbst aneignen. Es ist besser, etwas nicht zu wissen als sich zu irren. „Ich weiß nicht ist ein Wort, das uns beiden passt, und wir wiederholen es so oft, dass es uns keine Überwindung mehr kostet.“ 127 Allerdings darf nicht frühzeitig Unwissenheit gezeigt werden, sondern sie soll der Anlass für die Lernbereitschaft sein. So erwirbt Emil z.B. Kenntnisse über die Strahlenbrechung anhand des Experiments vom Stock im Wasser. 128 Diesbezüglich ist Rousseau der Auffassung, dass Emil dieses Wissen nur durch die Methode des Lernens am Modell erwerben kann. „Nie wird Emil die Lehre von Strahlenbrechung verstehen, es sei denn, er lernt sie an diesem Stock.“ 129 Dieses Beispiel erfüllt außerdem noch eine andere wichtige Voraussetzung beim sinnvollen Lernen: es ist anschaulich.
2.4.4 Lernen durch Anschauung
„Ich hasse Bücher! Sie lehren nur, von dem zu reden, was man nicht weiß.“ 130 Diese Äußerung zeigt Rousseaus starke Abneigung gegen Bücherwissen. Das Lernen muss seines Erachtens anschaulich sein. D.h. man sollte von der äußeren Sinneswahrnehmung zur inneren Vorstellungen gelangen und von Empfindungen zu Urteilen. Dies lässt sich weiterhin am o.g. Beispiel mit dem Stock belegen. Dieses Beispiel ist zwar anschaulich, aber es veranschaulicht nicht, um etwas besser verstehen zu können. Es zeigt lediglich das Phänomen selbst. Mit Hilfe dieses Prinzips wird die Neugier geweckt und der Mensch entwickelt das Interesse, selber nach Erklärungen zu suchen. „Und es zeigt sich im genauen Anschauen des Phänomens, hier des ‚Stocks im Wasser’, wie die sinnliche Vernunft des Kindes arbeitet, um zu einer selbsttätig- kreativen, ‚inneren’ Anschauung zu gelangen, zu einem ergänzenden Zusammenhang der äußerlich sichtbaren und über das Auge empfangenen Erscheinungen.“ 131 Damit nähert man sich auch schon einem weiteren Prinzip, denn entscheidend ist außerdem, dass das Kind selbst den Wunsch verspürt, eine bestimmte Sache lernen zu wollen.
2.4.5 Innerer Antrieb als Lernmotivation
Dieses Prinzip drückt aus, dass dem Menschen in Bezug auf das Lernen niemals etwas vorgeschrieben werden darf, sondern er seinem eigenen inneren Antrieb folgen sollte. „Denkt auch an erster Stelle daran, dass ihr ihm [dem Zögling] nur selten vorschreiben solltet, was er lernen soll. Er selbst muss es wünschen, suchen, finden. An euch liegt es, es seinem Verständnis nahezubringen (sic), geschickt den Wunsch in ihm zu wecken und ihm die Mittel zu geben, ihn zu befriedigen.“ 132 Die Selbsttätigkeit ist eine Fähigkeit, die den Menschen stark und überlebensfähig macht. „Es ist derselbe Naturtrieb, der die verschiedenen Fähigkeiten des Menschen belebt. Dem Drang des Körpers, sich zu entwickeln, folgt der Drang des Geistes, sich zu bilden.“ 133 Der Erzieher ist nach wie vor dominant, denn an ihm liegt es, den Wunsch sowie die Neugier des Schülers zu wecken. Es kommt manchmal sogar zu Inszenierungen, nur damit der Lernende keine Zwänge und Vorschriften spürt. Auch hier lässt sich das Beispiel vom Spaziergang im Wald von Montmorency anführen, der dazu dient, Emil Kenntnisse über Geographie und Astronomie zu vermitteln. 134
Selbstverständlich muss Emil nicht sofort den gesamten Globus internalisieren, denn sein Erzieher achtet auf seine Individualität und behandelt ihn seinem Temperament und Alter entsprechend.
2.4.6 Individualisierung und Individualität
Es ist von großer Relevanz, die Kinder altersgemäß zu behandeln, um eine natürliche Entwicklung zu fördern. „Behandelt also das Kind seinem Alter gemäß und hütet euch, seine Kräfte durch Überanstrengung zu erschöpfen.“ 135 Neben der altersgerechten Behandlung spielt aber auch die Individualität eines Kindes eine wichtige Rolle im Entwicklungs- und Erziehungsprozess. Obwohl Emil ein Durchschnittsschüler ist, ist es für Rousseau von Bedeutung, ihn als Individuum zu betrachten. „Wenn ich zu wählen hätte, nähme ich einen Durchschnittsgeist: so stelle ich mir meinen Schüler vor. Nur der Durchschnitt braucht Erziehung, und seine Erziehung dient als Beispiel für seinesgleichen.“ 136 Es ist zwar einfach die Individualität eines Kindes zu berücksichtigen, wenn man sich ohnehin nur um einen Schüler zu kümmern hat – so wie Rousseau um Emil. Trotzdem betont Rousseau: „Meine Beispiele passen vielleicht für einen, für tausend andere aber nicht. Erfasst man aber ihren Sinn, kann man sie nach Bedarf ändern. Die Wahl hängt von der Begabung eines jeden Kindes ab. Um es kennenzulernen (sic), muss man ihm Gelegenheit geben, seine Begabung zu beweisen.“ 137 Weiterhin ist bei der Individualisierung entscheidend, dass sich das Kind immer nur an sich selbst misst. So entsteht weder Rivalität und Konkurrenzdenken noch Eifersucht und Neid. 138 „Im Übrigen keine Vergleiche mit anderen Kindern, keine Rivalen, keine Konkurrenten, selbst beim Wettlauf nicht, sobald es [das Kind] anfängt, selbstständig zu denken. Hundertmal lieber wäre mir, es lernte gar nichts als aus Eifersucht oder Eitelkeit.“ 139 Rousseau zieht es vor, Emil nur an seinen eigenen Leistungen zu messen, indem er seine Fortschritte jährlich miteinander vergleicht. „So sporne ich ihn an, ohne ihn auf jemanden eifersüchtig zu machen. Emil will und soll sich übertreffen. Ich sehe keinen Hinderungsgrund, sein eigener Rivale zu sein.“ 140 Daraus resultiert, dass man bei Beachtung des Prinzips der Individualisierung nicht nur dem Kind gerecht wird, sondern auch zukünftigen gesellschaftlichen Schwierigkeiten vorbeugt. Weiterhin unterstützt Rousseau im weitesten Sinn das Prinzip des „errare humanum est“, das seines Erachtens nicht nur darauf limitiert bleibt, sondern dem Menschen eine neue Lernperspektive eröffnet.
2.4.7 Lernen durch Fehler
Das Wissen soll dem Schüler nicht serviert werden und es dürfen Fehler begangen werden, aus denen er besser lernen wird als aus jeder anderen Belehrung. So gelangt der Schüler zur Selbsterkenntnis und wird das einmal Selbsterlernte nie wieder vergessen. „Wenn es [das Kind] sich irrt, lasst es gewähren und berichtigt seine Irrtümer nicht. Wartet in Ruhe ab, bis es imstande ist, sie selbst zu erkennen und zu verbessern. Bringt höchstens bei einer günstigen Gelegenheit ein Beispiel, dass ihm seine Irrtümer bewusst macht. Wenn es sich niemals irrte, könnte es nicht so gut lernen.“ 141 Diesbezüglich kann auch Phantasie seitens des Erziehers vorhanden sein, um bewusst Situationen zu schaffen, in denen sich der Schüler irrt, damit er dann selbst zu einer Lösung kommt. Emil lernt vieles auf diese Art und Weise. 142 „Das Wissen – das ist die Einsicht, die Rousseau jetzt errungen hat – ist ohne Gefahr, sofern es sich nicht schlechthin über das Leben erhebt und sich von ihm losreißt, sondern es der Ordnung des Lebens selbst dienen will.“ 143 Genauso ist in der Erziehung die Autorität der Dinge von großer Bedeutung, denn das Kind stößt an seine eigenen Grenzen und die der Natur. 144 Dieses Lernen durch Fehler darf nicht mit „sich irren“ im Sinne vom Halbwissen verwechselt werden, denn da bevorzugt Rousseau – wie bereits im Punkt 2.4.3 „Lernen am Modell“ erwähnt – lieber die Unwissenheit. „Erinnert euch, dass der Sinn meiner Erziehung nicht ist, dem Kind vieles beizubringen, sondern ihm niemals andere als richtige und deutliche Begriffe zu vermitteln. Wenn es gar nichts wüsste, läge mir wenig daran, wenn es sich nur nicht täuscht. Ich vermittle ihm die Wahrheit nur deshalb, um es vor Irrtümern zu bewahren, die sonst ihren Platz einnähmen.“ 145 Dies zeigt deutlich und belegt, wie der Erzieher das Denken und Lernen des Schülers organisiert und steuert.
2.4.8 Durch den Erzieher gesteuertes Denken
Bei diesem Prinzip wird der Prozess des Lerninhaltes vom Erzieher bewusst inszeniert und von Anfang an gesteuert, ohne dass der Schüler darüber Bescheid weiß. Ein Beispiel, dass dieses Prinzip besonders verdeutlicht, ist das Beispiel mit der „magnetischen Ente“. Durch einen Zufall entdecken Jean – Jacques und Emil, dass sich Eisen durch Magneten in Bewegung setzten lässt. Als sie sich eines Tages auf dem Jahrmarkt befinden, beobachten sie einen Zauberer, dessen Tricks dem Prinzip des Magnetismus zugrunde liegen. Nachdem auch Emil dieses Prinzip erkannt hat, bauen sie zu Hause ein ähnliches Modell nach und kehren noch am gleichen Abend zum Markt zurück. Emil präsentiert das gleiche Kunststück mit großem Erfolg und ist auf sein Können sehr stolz. Er erhält bei dieser Gelegenheit von dem Zauberer eine Einladung für den nächsten Abend, um das Kunststück noch einmal vorzuführen. Als sie am nächsten Tag voller Freude wieder dort sind, funktioniert der Trick jedoch nicht mehr. Emil wird vom Publikum ausgelacht, ist maßlos enttäuscht und geht beschämt nach Hause zurück. Noch einen Tag später erscheint der Zauberer bei ihnen zu Hause, um Jean – Jacques dafür zu kritisieren, seinen Schüler nicht davor zurückgehalten zu haben, dass Emil die Arbeit eines Zauberers lächerlich gemacht hat. 146 Erst an dieser Stelle erfährt der Leser von „Emil oder über die Erziehung“, dass es sich um einen von dem Erzieher inszenierten Prozess handelt. „Hätte ich annehmen sollen, dass es so einen dummen Leser gibt, der nicht bemerkt hätte, dass diese Tadelsrede Wort für Wort vom Erzieher diktiert war, um seinen Absichten zu dienen?“ 147 Der Erzieher hat also nichts dem Zufall überlassen und sogar den Zauberer miteinbezogen, um das Gelingen seiner Absichten zu sichern. Dieses Erlebnis soll für Emil bei der Bildung seines Charakters von großer Bedeutung sein, denn er muss zuerst den Misserfolg am eigenen Leib spüren, damit er nicht überheblich wird. Emil soll die Menschen kennen lernen, „(...) so wie sie sind, nicht um sie zu hassen, sondern um sie zu bedauern und ihnen nicht gleichen zu wollen. (...) Er soll wissen, dass der Mensch von Natur aus gut ist, (...) dass er [Emil] aber sieht, wie die Gesellschaft den Menschen verdirbt und widernatürlich macht. 148 “ Dazu wird Emil immer wieder Gelegenheit haben, allerdings braucht er noch Gefühl, damit die Vernunft in ihm reifen kann. Dies wird in seiner Jugendzeit geschehen.
2.5 Entwicklung und Erziehungsgrundlagen in der Jugendzeit
(4. & 5. Buch)
Emil ist inzwischen 15 Jahre alt und befindet sich in einem Zustand zwischen Kind und Mann, was sich u.a. an seinem Stimmbruch zeigt. „Der Stimm-Bruch wird charakteristisch für den Lebens-Bruch in dieser Phase, für eine Art unkonturierte „Grauzone“ des Lebens, irgend-
wo im Zwischenbereich des Nicht-mehr-Kind-Seins und Noch-nicht-Erwachsen-Seins (...).“ 149 Auch in dieser Zeit muss der Erzieher verschiedene Prinzipien beachten, um sein Ziel zu erreichen.
2.5.1 Positive Erziehung
Während Rousseau in der Kindheit das Prinzip der negativen Erziehung verfolgte 150 , muss nun in der Reife- bzw. Jugendzeit das Prinzip der positiven Erziehung Verwendung finden. „Jetzt ist es an der Zeit, die Methode zu wechseln.“ 151 Nun kommt es darauf an, den Schüler nicht nur seine Erfahrungen machen zu lassen, sondern ihn auch zu belehren. Außerdem macht der Erzieher Emil auch im voraus auf mögliche Fehler aufmerksam, aber er wirft ihm nichts vor, wenn dieser sie doch begeht, sondern fordert sogar dazu auf, dem Schüler bei seinen Fehlern zu folgen, um dann im Notfall eingreifen zu können 152 und ihm mit guten Worten und Trost zur Seite zu stehen. Ähnlich wie das Lernen durch Fehler 153 sind auch diese Fehler, die Emil sogar richtigen Schaden zufügen, sehr wichtig für seine weitere Entwicklung, insbesondere für die Bildung des Herzens.
2.5.2 Bildung des Herzens
Da in der Jugendzeit Emils Leidenschaften erwachen, werden auch neue Bedürfnisse geweckt. Daraus resultiert, dass er schwach und von anderen Menschen abhängig ist. Diese Schwäche beinhaltet aber auch eine gewisse Gefahr für Emil, denn „(...) wenn nun Emil seine Stellung unter den Menschen gefunden hat und sich darin glücklich sieht, wird er sich versucht fühlen, dieses Werk eurer Vernunft seiner Vernunft zuzuschreiben und sein Glück seinem eigenen Verdienst anzurechnen.
Er wird sich sagen: Ich bin weise und die Menschen sind verrückt. Er wird sie bedauern und zugleich verachten; er wird sich beglückwünschen und höher schätzen. Da er sich glücklicher fühlt als sie, wird er glauben, auch würdiger zu sein.“ 154 Emil könnte also arrogant und hochmütig werden, wenn der Erzieher nicht darauf achtet, dass die Bildung seines Herzens stattfindet. Dies gilt auch für die Selbstliebe als „Quelle unserer Leidenschaften“, die positiv, sanft und liebenswert ist und sich selbst genügt. Aber sie kann in Eigenliebe umschlagen, die Vergleiche anstellt und hass- und zornerfüllt ist. 155 Deshalb setzt der Erzieher seinen Schüler bewusst allen Gefahren aus, die ihn lehren, sich nicht als etwas Besonders zu fühlen. 156 Findet die Bildung des Herzens erfolgreich statt, kann auch das Gewissen entstehen, das es wiederum ermöglicht, zwischen Gut und Böse zu entscheiden und ein Gefühl für Gerechtigkeit und Güte zu entwickeln. 157 Ein entscheidender Faktor im gesamten Reifeprozess ist dabei die Zurückhaltung.
2.5.3. Zurückhaltung der Leidenschaften
Wie schon aus dem vorherigen Punkt deutlich wurde, befindet sich der Schüler in der Reifezeit in einer schwachen Position. Die neu geweckten Bedürfnisse sollten aber nicht befriedigt sondern eher zurückgehalten werden. „Ich komme also auf meine Methode zurück und sage: Wenn das kritische Alter naht, dann bietet den jungen Leuten Unterhaltungen, die sie zurückhalten (...). Lenkt die erwachende Phantasie durch Dinge ab, die die Tätigkeit der Sinne eindämmen, (...).“ 158 Um ihn von der Liebe zurückzuhalten – er ist nämlich noch nicht reif genug dafür – braucht Emil eine interessante Tätigkeit, die ihn fesselt und anstrengt. 159 Natürlich sollte man auch wieder die Stadt meiden, die nur Gefahren in sich birgt, und das Landleben vorziehen. 160 „Bisher habe ich ihn [Emil] durch Unwissenheit zurückgehalten; jetzt muss ich ihn durch Aufklärung aufhalten.“ 161 Diese Aufklärung sollte aber kurz, ernst, bestimmt und wahr sein und ohne Zögern erfolgen. 162 In welchem Alter der Schüler aufgeklärt wird, hängt von dem Schüler bzw. seiner Individualität und den Umständen ab, aber „(...) nichts darf dem Zufall überlassen werden. Wenn ihr nicht sicher seid, ihn bis zum sechzehnten Lebensjahr über die Verschiedenheit der Geschlechter in Unkenntnis lassen zu können, so seht zu, dass er sie vor dem zehnten Lebensjahr kennen lernt.“ 163 Sollte dieses Prinzip erfolgreich umgesetzt werden können, so betrachtet das Kind die Menschen nicht nur mit den Augen, sondern auch mit seinem Herzen.
2.5.4 Erziehung zur Menschlichkeit
Im Vordergrund der Jugendzeit steht die Erziehung zur Menschlichkeit. Dazu muss zunächst die Empfindsamkeit des Schülers geweckt werden. Es ist also wichtig, „(...) in ihm die Güte, die Menschlichkeit, das Erbarmen, die Wohltätigkeit und alle anziehenden und sanften Leidenschaften zu erwecken, die dem Menschen von Natur aus gefallen (...).“ 164 Dies geschieht u.a., indem man dem Schüler das Unglück anderer vor Augen führt, denn wir Menschen sind nur dazu in der Lage, uns in einen unglücklicheren Menschen zu versetzen. Auch sollte man immer daran denken, dass man selbst zu den Leidenden gehören könnte. Aus diesem Grund sollte das Wohl der anderen immer an erster Stelle stehen und die Sorge um uns selbst in den Hintergrund treten. So entsteht Tugend und die Liebe für die Gerechtigkeit. 165
2.5.5 Der Erzieher als Vertrauensperson
Ein weiteres Prinzip, das von Bedeutung ist, zeichnet den Erzieher als Vertrauten aus. So fordert Rousseau, dass man den Schüler mit der Geschlechtsreife als Mann und Fremd behandeln sollte. Er ist auch der Überzeugung, dass Emil sich jetzt der Ordnung fügen wird, da er die totale Freiheit hatte. 166 „Das Gefühl, das ihn an Euch bindet, ist das einzig dauernde; (...).“ 167 So wird das Verhältnis zum Erzieher gut sein, wenn der Schüler weder Vorschriften noch Strafen zu befürchten hat und er wird alles dem Erzieher anvertrauen. Auch in diesem Zusammenhang sollte der Erzieher wieder keine langen Reden halten, denn Zeichen sind generell stärker als Worte. 168 Argumente zeigen meist nur, was man denken soll, aber sie bewegen nicht das Herz und führen nicht zum Handeln. Was man tut oder tun soll, muss man auch wollen, denn „(...) dem Wollenden ist nichts zu schwierig.“ 169 Aus diesem Grund muss man interessant und lebendig berichten, dann wird der Schüler selbst wollen, dass der Erzieher sein Beschützer bleibt und die Autorität über ihn behält, auch dann, wenn er schon in Kontakt mit der Gesellschaft gekommen ist.
2.5.6 Erster Kontakt mit Menschen in der Gesellschaft
Natürlich soll Emil nicht einsam bleiben, sondern ein Glied der Gesellschaft werden, Pflichten erfüllen und mit den Menschen zusammenleben. Damit die Einführung in die Gesellschaft einen wirklichen Nutzen bekommt und nicht nur abstrakt und zukunftsorientiert bleibt, wollen sich Emil und der Erzieher auf die Suche nach einer Gefährtin begeben. 170 Zuvor sollte aber die Idealfrau geschildert werden. Diese hat zwar auch einige Fehler, ist aber liebenswert. Das Ideal der Vorstellung schützt den Zögling nämlich vor Verführungen, da er dies mit der Realität vergleichen wird. Die Enthaltsamkeit gilt bei Rousseau ohnehin als moralische Pflicht. Allerdings muss Emil trotzdem mit dem anderen Geschlecht zusammenkommen, denn nur „(...) im Verkehr der beiden Geschlechter (...)“ 171 bildet sich der Geschmack. „In physischen und solchen Dingen die vom Urteil der Sinne abhängen, soll man den Geschmack der Frauen zu Rate ziehen; in moralischen und solchen Dingen, die mehr vom Verstand abhängen den der Männer.“ 172 So können sich Männer und Frauen gegenseitig ergänzen und unterstützen. In dieser Zeit, in der die Idealfrau, Sophie, gesucht werden soll, lernt Emil aber eigentlich die Gesellschaft und die Menschen als Individuen kennen. Der Erzieher hat es extra so eingerichtet, Sophie nicht finden zu können, damit Emil diese Erfahrungen machen kann. „Wenngleich sich der Mensch durch den Eintritt in die Gemeinschaft verschiedener Vorteile beraubt, die er im Naturzustand besessen hat, so gewinnt er damit auf der anderen Seite eine solche Entwicklung seiner Fähigkeiten, eine solche Erweckung seiner Ideen und eine solche Veredelung seiner Gefühle, dass wenn die Missbräuche dieser neuen Ordnung nicht wären, die ihn oft unter den Naturzustand herabwürdigen, er ohne Unterlass den glücklichen Augenblick segnen müsste, der ihn diesem Zustand für immer entrissen und der aus einem beschränkten und stupiden Tier ein geistiges Wesen und einen Menschen gemacht hat.“ 173
2.6 Erziehung der Mädchen
Der Grundgedanke bezüglich der Erziehung bei Frauen ist, dass man einfach nur der Natur zu folgen braucht. Daraus ergibt sich für Rousseau der einfache Grundsatz: „Die ganze Erziehung der Frauen muss daher auf die Männer Bezug nehmen.“ 174 Wenn die Frauen die Männer leiten und über sie herrschen wollen, ist es wichtig, „(...) den Männern zu gefallen, diesen nützlich zu sein, sich ihnen liebenswert zu machen, sie in der Kindheit zu erziehn (sic), und wenn sie groß sind, zu pflegen, zu beraten, zu trösten, ihnen das Leben leicht und angenehm zu machen: das ist eine der ersten Pflichten des weiblichen Geschlechts zu allen Zeiten, zu welcher man es von Kindheit an erziehen muss“. 175 Die Bestimmung einer Frau ist es Rousseaus Auffassung nach, Kinder zu bekommen. Daraus ergeben sich bestimmte Aufgaben und Pflichten, wie z.B. das Stillen oder die Erziehung der Kinder. Zur Erfüllung dieser Pflichten wiederum benötigt die Frau gewisse Eigenschaften, die sie grundlegend vom Mann unterscheiden. Dazu gehören u.a. Häuslichkeit, Geduld und Zärtlichkeit. Rousseau selbst hat diesbezüglich seine eigenen Phantasien, denn „(…) d’ailleurs, dit – il, des couturières, des filles de chambre, de petites marchandes ne me tentaient guère. Il me fallait des demoiselles.“ 176 Sowohl Mädchen als auch Jungen werden mit Hilfe der Erziehung darauf vorbereitet, ihre Plätze in der Gesellschaft „richtig“ zu besetzen. Allerdings muss eine Differenzierung bezüglich der Leibesübungen berücksichtigt werden, denn „(...) die Weiber können nicht ebenso robust wie die Männer (...)“ 177 sein. Es soll darauf geachtet werden, dass die Mädchen bis zu einem gewissen Maß stark sind, damit sie auch später Kinder zur Welt bringen, die robust werden. Weil die Frau und der Mann hinsichtlich ihrer Konstitution nicht gleich aufgebaut sein können, „(...) so folgt daraus, dass sie auch nicht die gleiche Erziehung haben dürfen.“ 178 In Bezug auf die Ernährung und Bewegung ist dies nicht zu unterscheiden, denn sowohl Mädchen als auch Jungen brauchen genauso viel Bewegung und natürlich Spiele sowie frische Luft für ihre Entwicklung. Es nutzt nichts, wenn man ein Mädchen besonders ernährt und immer unter Aufsicht seiner Mutter hält und keinerlei Freiheit genießen lässt, quasi gefangen hält. „Allzu viel Nachsicht und übelangebrachte Strenge sind dem Geist und Körper der Jugend gleich nachteilig.“ 179
Die ideale Frau, die sich in Sophie verkörpert, hat von Natur aus mehr Instinkt und Gefühlswerte als der Mann, weil sie durch die gesellschaftlichen Konventionen nicht so angreifbar ist wie der Mann. 180 Um dieses Idealbild erreichen zu können, musste Sophie außer nach den o.g. Grundsätzen auch nach den folgenden Prinzipien erzogen werden.
2.6.1 Bedeutung der Körperpflege
„Fast von Geburt an lieben die Mädchen den Putz. Es genügt ihnen nicht hübsch zu sein, sie wollen auch, dass man sie hübsch findet.“ 181 Aus diesem Grund ist die Körperpflege sehr wichtig, aber sie sollten keine enge, geschnürte Kleidung tragen, die nur den Körper verdirbt. Andererseits ist es für Mädchen ein Vergnügen, sich zu schmücken und schön zu machen. Deshalb sollten sie auch frühzeitig lernen, sich selber Kleidung entwerfen und nähen zu können. „Tatsächlich lernen alle Mädchen nur mit Widerwillen Lesen und Schreiben; aber wie man eine Nadel hält, das lernen sie gerne.“ 182 Obwohl es Dinge gibt, die die Mädchen gerne lernen, muss man sie aber auch an Zwang gewöhnen.
2.6.2 Gewöhnung an Zwang
Da die Frauen ihr ganzes Leben lang die Folgsamkeit brauchen werden, ist es von entscheidender Bedeutung die Mädchen schon beizeiten an den Zwang zu gewöhnen. 183 Dabei spielt die Anhänglichkeit zur Mutter eine wichtige Rolle. Sie dient als Vorbild und mit Hilfe ihrer Sanftmut triumphiert sie letztendlich über den Mann und bringt ihn zur Vernunft. Dabei muss sie natürlich auch lernen, Unrecht zu ertragen, ohne zu klagen. 184 Da die Frau aber eine Überlegenheit an Witz und List besitzt, wird sie schließlich dem Mann ebenbürtig und beherrscht ihn. Um dahin zu kommen, muss die Frau bzw. das Mädchen sich jedoch immer dem Handlungsleitmotiv des Eindrucks auf andere unterwerfen.
2.6.3 Eindruck als Handlungsleitmotiv
Während Rousseau bei der Erziehung der Jungen immer wieder die Frage nach der Nützlichkeit stellte, sollten sich die Mädchen immer fragen, welchen Eindruck etwas, das sie sagen oder tun, machen könnte. Die öffentliche Meinung ist nämlich bei Frauen ganz wichtig für ihren Ruf und ihre Ehrbarkeit. Dabei müssen die Mädchen auch lernen, den anderen nur Angenehmes zu sagen und nicht zu lügen, also insgesamt höflich zu sein.
Da Mädchen klug und schlau genug sind, Geheimnisse zu erkennen und zu entdecken, darf man sie keine Fragen stellen lassen, sondern sollte sie selbst zum Sprechen anregen, damit sie schlagfertig werden. 185 Auch das Geheimnis der Religion sollte man sie nicht selbst entdecken lassen, sondern mit ihnen darüber sprechen.
2.6.4 Erziehung zur Religion
„Wenn Knaben schon nicht imstande sind, sich einen richtigen Begriff von der Religion zu machen, so geht sie um so mehr über das Fassungsvermögen der Mädchen hinaus.“ 186 Deshalb will Rousseau mit ihnen schon früher darüber sprechen, weil er befürchtet, dass ein später sonst vielleicht nie kommt. „Weil das Benehmen der Frau der öffentlichen Meinung unterworfen ist, ist ihr Glaube der Autorität unterworfen.“ 187 Deshalb sollte jede Frau die Religion ihres Mannes haben und jede Tochter die ihrer Mutter. Dabei geht es nicht darum, klar zu machen, warum man glaubt, sondern nur was. Sie sollen gern glauben, aber nicht auswendig lernen und nicht lügen müssen. 188 Dogmen jedoch sind für Rousseau wie Worte ohne Inhalt. Für ihn ist es wichtig, dass man weiß, dass es einen Gott gibt, der uns alle liebt und der uns die Nächstenliebe vorschreibt und fordert: „Macht aus euren Töchtern keine Theologen und Haarspalter. Lehrt sie von den himmlischen Dingen nur das, was der menschlichen Weisheit dient. Gewöhnt sie daran, sich immer vor den Augen Gottes zu fühlen (...); das Gute ohne Aufhebens zu tun, weil er es liebt; das Übel ohne Murren zu erleiden, weil er sie entschädigt; (...). Das ist die wahre Religion (...).“ 189 Dabei dient die Mutter als Vorbild.
2.6.5 Die Mutter als Vorbild
Rousseaus Auffassung nach ist es falsch, die Mädchen in Klöstern zu erziehen, denn diese erziehen nicht zur Sittsamkeit und Tugend, wie man annehmen könnte, sondern zur „Koketterie“. 190 Deshalb fordert er die Mütter dazu auf, sich ihre Töchter zu Gefährtinnen zu machen. Sie sollen letzteren als Vorbild dienen und ihnen den Platz in der Familie und in der Gesellschaft zeigen und vorleben. „Nur im Vaterhaus gewinnt man den Sinn für das eigene Heim, und keine Frau, die nicht von ihrer Mutter erzogen worden ist, hat später Freude daran, ihre eigenen Kinder zu erziehen.“ 191 Dabei sollte man wiederum langes Reden und Moralisieren vermeiden und stattdessen das wirkliche Interesse der Mädchen an Sittsamkeit, Keuschheit, Höflichkeit usw. wecken, damit sie selbst den Wunsch haben, diese Eigenschaften zu bekommen. Die Gesellschaft, in der das Mädchen aufwächst, übt einen starken Einfluss auf seine Entwicklung aus. Dies lässt sich natürlich auf alle Individuen übertragen und somit entsteht ein Spannungsfeld zwischen Individuum und Gesellschaft.
2.7 Entwicklung im Spannungsfeld Individuum - Gesellschaft
„Nicht wir sind es mehr, die denken und urteilen; die Gesellschaft denkt in uns und für uns. Wir brauchen nicht länger nach der Wahrheit zu forschen; sie wird uns als geprägte Münze in die Hand gegeben.“ 192 Obwohl der Mensch nach Rousseau von Natur aus gut ist, bedarf er der Erziehung, denn er ist schwach und sowohl durch die gesellschaftlichen Meinungen und Vorbilder als auch durch seine Leidenschaften gefährdet. Aus der ursprünglichen Güte kann also das Böse entstehen, da es immer Widersprüche zwischen „Mensch“ und „Bürger“ aufgrund seiner Neigungen und Pflichten geben wird.
Emil soll zum „Menschen“ erzogen werden und dafür ist die „häusliche“, auch natürliche Erziehung genannt, am besten geeignet. 193 Der Gedanke scheint zwar in erster Linie kontrovers zu sein, aber es wird sich dennoch zeigen, dass dieses Erziehungsziel erreichbar sein kann, denn man muss zuerst den natürlichen Menschen fertig ausgebildet betrachten können. „Man müsste seine Neigungen beobachtet, seine Fortschritte gesehen, seinen Weg verfolgt haben; kurz, man müsste den natürlichen Menschen kennen.“ 194 Das Erreichen dieses Ziels stellt selbstverständlich eine große Herausforderung dar, denn man muss ohne Zweifeln wachsam sein und viel tun „(...) nämlich verhindern, dass etwas getan wird.“ 195 Emil soll nicht einseitig erzogen werden, sondern ganzheitlich, d.h.: „Ob mein Schüler Soldat, Priester oder Anwalt wird, ist mir einerlei,(...)“ 196 , postuliert Rousseau. Das Entscheidende ist, dass Emil selbsttätig, selbstständig und überlebensfähig wird.
Rousseau betont: „Leben ist ein Beruf, den ich ihn lehren will.“ 197 Weiterhin ist Rousseau absolut zuversichtlich, dass Emil keinen von den o.g. Berufen erwerben wird, sondern in erster Linie, den eines Menschen, wenn er selbst seine erzieherischen Aufgaben übernimmt. Bei Rousseau lassen sich nämlich vier Menschentypen unterscheiden, die an dieser Stelle genauer vorgestellt werden sollen, um verständlich zu machen, welchen Menschentyp er für ideal hält und den Emil verkörpern soll. „Diese vier menschlichen Seinswesen ließen sich auf die Opposition von Natur und Gesellschaft reduzieren mit deutlicher Wertung für die Natur und wider die Gesellschaft. Bis auf den „bourgeois“ erkennt Rousseau jedoch alle Seinsweisen als positiv und gut an.“ 198 Zunächst gibt es den „homme naturel“ in seinem Anfangsstadium, der wie ein Wilder lebt und nur rein physische Bedürfnisse hat.
Dieser natürliche Mensch ruht in sich und lebt in der Gegenwart. Das Leben an sich ist der Sinn seines Lebens. „Im subjektiven, von fremden, ihm [dem „homme naturel“] äußerlichen Zielen unabhängigen Fühlen des Lebens und vollen Ausleben seines gegenwärtigen Daseins vollzieht sich die ganze Glückseeligkeit des natürlichen Menschen, und es ist letztlich die Glückseeligkeit des Kindes, die hier zum Ausdruck kommt.“ 199 Diesem „homme naturel“ wird im „Emil“ der zweite Typus, nämlich der „homme civil“ gegenübergestellt und man „(...) muss wählen, ob man einen Menschen oder einen Bürger erziehen will: beides zugleich ist unmöglich.“ 200 Während dem natürlichen Menschen eine private und häusliche Erziehungsform am besten entspricht, braucht der Bürger eine öffentliche und allgemeine. 201 Diese „(...) gibt es nicht mehr und kann es nicht mehr geben, denn wo kein Vaterland ist, gibt es auch keine Bürger mehr.“ 202 Dieser Bürger ist im Gegensatz zum „homme naturel“ aber kein mit sich im Einklang lebender Mensch, sondern „(...) nur ein Bruchteil, der vom Nenner abhängt, und dessen Wert in der Beziehung zum Ganzen liegt, d.h. zum Sozialkörper.“ 203 Einen weiteren Typus bildet der „bourgeois“, den Rousseau völlig ablehnt, denn er ist egoistisch, will besser sein als alle anderen, strebt nach Eigentum und sieht seine Stärke nicht in sich selbst, sondern in seinem Besitz. Sein Dasein wird durch sein Haben, die öffentliche Meinung und die gesellschaftliche Anerkennung geprägt. Der Typus des „bourgeois“ entsteht nach Rousseaus Auffassung durch eine Mischerziehung.
„Wer innerhalb der bürgerlichen Ordnung seine Ursprünglichkeit bewahren will, der weiß nicht, was er will. Im Widerspruch mit sich selbst, zwischen seinen Neigungen und Pflichten schwankend, wird er weder Mensch noch Bürger sein. Er ist weder sich noch anderen nützlich. Er wird ein Mensch von heute sein, ein Franzose, ein Engländer, ein Spießbürger: ein Nichts.“ 204 Der vierte und letzte Typ ist der des entfalteten, entwickelten „homme naturel“ wie es Emil werden soll bzw. am Ende ist. Gleich der erste Satz des ersten Buches macht Rousseaus Einstellung diesbezüglich deutlich. „Alles ist gut, wie es aus den Händen des Schöpfers kommt; alles entartet unter den Händen des Menschen.“ 205 Damit sich also der natürliche Mensch richtig entfalten und entwickeln kann, ohne zu entarten und böse zu werden, muss er von den möglichen Gefahren der Entartung ferngehalten bzw. geschützt werden. „(...) so versucht er [Rousseau] nun, in Émile die menschliche Natur zur Entfaltung zu bringen und alle Entartungsmöglichkeiten in fast klinisch zu nennender Sauberkeit zu vermeiden.“ 206 Um dies zu erreichen, wählt Rousseau einen allgegenwärtigen Erzieher, der genau darauf achtet, dass Emil einerseits der „homme naturel“ bleibt, andererseits sich aber entfalten kann, ohne zum „homme civil“ oder sogar zum „bourgeois“ zu werden. Eine Grundvoraussetzung für die Natürlichkeit ist u.a. die Freiheit, d.h. die Echtheit eines Menschen tritt nur dann in Erscheinung, wenn er sich frei fühlen und handeln kann. „Freiheit bedeutet für ihn [Rousseau] nicht Willkür, sondern die Überwindung und den Ausschluss aller Willkür. Sie besagt die Bindung an ein strenges und unverbrüchliches Gesetz, das das Individuum über sich selbst aufrichtet. Nicht die Abkehr von diesem Gesetz und die Losgelöstheit von ihm, sondern die selbständige Zustimmung zu ihm ist das, was den echten und eigentlichen Charakter der Freiheit ausmacht.“ 207 Der Mensch wird frei geboren, d.h. alle Zwänge, die er zu erleiden hat, sind in Zusammenhang mit der Gesellschaft zu sehen. „’Leben, Freiheit, Eigentum sind angeborene Grundrechte der im Naturzustand gleichen Individuen’. Der Zusammenhang zwischen „droit naturelle“ und „égalité naturelle“ wurde u.a. 1755 von Jancourt in einem Artikel der Encyclopédie dargestellt. Jancourt hob hervor, dass aus dem Prinzip der natürlichen Gleichheit resultiere, dass ‘tous les hommes sont naturellement libres... malgré toutes les inégalités produites dans le gouvernement politique par la différence des conditions, par la noblesse, la puissance, les richesses...’“. “ 208 Den Kern des generellen politisch – sozialen Problems sieht Rousseau im Staat.
Denn „(...) der Staat nimmt das Individuum ganz und ohne Rückhalt in Anspruch, er wirkt hierin nicht als Zwangsanstalt, sondern er stellt es damit nur unter eine Verpflichtung, die es selbst als gültig und notwendig ansieht, und die es daher, ebenso wohl um ihrer selbst willen wie um seinetwillen, bejaht.“ 209 Auch Emil hat die Gelegenheit, den Staat bzw. verschiedene Regierungsform kennen zu lernen.
2.7.1 Emils bürgerliche 210 Beziehung zu seinen Mitmenschen
Emil hat sich bis zu seiner Jugendzeit nur in seinen physischen und moralischen Beziehungen zu den anderen Menschen betrachtet. Um seine bürgerliche Beziehung zu seinen Mitmenschen zu erkennen, soll Emil nun auf Reisen gehen. Dabei kann er das Wesen der Regierung im Allgemeinen aber auch verschiedene Regierungsformen kennen lernen. Er kann alles über Staatsverwaltung, öffentliche Sitten und Staatsgrundsätze erfahren. 211 „Wer sich jedoch über bestehenden Regierungsformen ein gesundes Urteil bilden will (...), muss wissen, was sein muss, um das, was ist, richtig zu beurteilen.“ 212 Dabei geht es um zwei Fragen: „Was geht mich das an?“ und „Was kann ich dazu tun?“ Emil wurde durch seine Erziehung instand gesetzt, darauf antworten zu können. Er wird nach seiner Reise sagen: „Freiheit gibt es in keiner Regierungsform, sie lebt nur im Herzen des freien Mannes.“ 213 Er wird nämlich „(...) die Regierungen mit all ihren Lastern und die Völker mit all ihren Tugenden kennen.“ 214 Aus diesem Grund bleibt er in seiner Heimat, wird den Menschen ein Wohltäter und nützlich sein und sie werden von ihm lernen können.
2.8 Zusammenfassung der Entwicklungstheorie
Die Entwicklungstheorie von Jean – Jacques Rousseau basiert auf einer Logik der Naturalistizität. Es sollte diesbezüglich lediglich auf die Individualität des Kindes Rücksicht genommen werden, um es auf die Realität des Lebens „richtig“ vorzubereiten. Dabei gilt nur das einzige Prinzip des „chaque chose en son temps“, das nicht vernachlässigt werden darf, denn die Entwicklung jedes Menschen läuft nach einem bestimmten natürlichen System. Schenkt man dem natürlichen Entwicklungssystem keine Beachtung, so gerät „alles“ außer Kontrolle und das Ziel der Erziehung, das nach Rousseau die Natur selbst ist, kann nicht mehr „mühelos“ erreicht werden. „In allem sobald man einmal von der natürlichen Ordnung abweicht, ist alles schwer, wenn es gut geraten soll.“ 215 Die von Menschen geschaffenen Erziehungs- sowie Sozialisationsmethoden sind dafür verantwortlich, dass der Mensch sich negativ entwickelt, obwohl er von Natur aus gut ist. Nichtsdestotrotz besitzt der Mensch noch mehrere weitere Chancen, seinen Charakter aus eigener Kraft zu verbessern, denn er ist bildsam und als geschichtliches Wesen kann er sich selbst bilden. Die menschliche Entwicklung kann nicht gestoppt werden, denn sie ist in bzw. mit seiner Natur gegeben. „Fast das ganze erste Alter ist Krankheit und Gefahr. Allein wenn die Proben überstanden sind, so hat das Kind Kräfte gewonnen, und sobald es von dem Leben Gebrauch machen kann, ist auch die Lebenskraft stärker geworden. Dies ist der Gang der Natur; man hüte sich, ihr entgegen zu handeln.“ 216 Es gibt nach Rousseau keinen anderen Weg, der zu grenzenloser Freiheit und Harmonie des Menschen mit sich selbst und auch mit seinesgleichen führt als den der Natur, wobei der Mensch über allem steht. Die Gedanken von Rousseau, die im „Emil“ dargestellt sind, eröffnen eine neue Perspektive in der Pädagogik, die auf einer völlig neuen anthropologischen Grundlage basieren. Rousseau selbst hat sowohl von seinen Mitmenschen als auch aufgrund persönlicher Erfahrungen viel gelernt, was ihn beeinflusst hat, seine Entwicklungstheorie zu entwerfen. Diese Einflussfaktoren werden im folgenden Kapitel erarbeitet und dargelegt.
3. Einflussfaktoren auf die Entwicklungstheorie
Rousseaus Entwicklungstheorie fand große Anerkennung in der Pädagogik. „Er [Rousseau] gehört mit zu den anregendsten und erregendsten Gestalten nicht nur der Pädagogik, sondern der Geistesgeschichte überhaupt.“ 217 Da er aber im Prinzip wie jeder andere Mensch gelebt hatte, stellt sich die Frage, wodurch er bezüglich seiner Entwicklungstheorie beeinflusst wurde. „Rousseaus Versuch, eine neue Theorie des Menschen zu begründen, stand in hohem Grade unter dem Eindruck der Entwicklung in den zeitgenössischen Wissenschaften (...).“ 218 Es ist bekannt, dass Rousseau sehr interessiert an Büchern und fasziniert von ihnen war. „Quand il devient client d’ une loueuse de livres, sa passion n’ a plus des bornes. Il lit sans choisir, avidement, partout, sans cesse, même en travaillant; il donne tout ce qu’ il a à la loueuse pour se procurer de nouveaux livres.“ 219 Er gab also alles, was er hatte, dafür, dass er seinen Wissensdurst – in diesem Sinne – stillen konnte. Auch Thomas von Aquin hatte Rousseau wahrscheinlich nicht übersehen, denn man findet die Wurzel seiner Anthropologie in Thomas von Aquins Schriften.
„Es hat sich mit großer Klarheit gezeigt, dass Rousseau eine historische Auffassung von der menschlichen Natur vertreten hat: dass diese, nicht ein für allemal festgelegt, im Laufe eines historischen Prozesses verschiedene Stufen ihrer Entfaltung erfährt.“ 220 So hat z.B. die Untersuchung von Müller gezeigt, „(...) dass die Herausbildung der anthropologischen Konzeption Rousseaus in bestimmten Elementen auch von antiker Tradition geprägt war.“ 221 Während seines Aufenthalts bei Madame de Warens, seiner damaligen Gastgeberin, beschäftigt sich Rousseau u.a. mit „Pflanzensammeln und Musikunterricht“. Er widmet seine Zeit außerdem den Studien, die bei ihm in dieser Zeit besondere Bedeutung gewinnen. „Mit größtem Eifer und Enthusiasmus beschäftigte er sich mit den Werken von Locke, Leibniz, Malebranche, Descartes, Bayle, La Bruyère, Larochefoucauld usw., so dass er sich gründliche philosophische Kenntnisse erwarb.“ 222 Wenn man außerdem die Entstehungsgeschichte der physiologischen Erziehung unter die Lupe nimmt, so kann man feststellen, dass John Locke (1632 - 1704) starken Einfluss auf Rousseaus Entwicklungstheorie genommen hat. John Lockes Erziehungsideen z.B. „(...) sind daher sogar in direkter Abhängigkeit zu der von ihm ebenfalls induzierten herrschenden philosophischen Richtung der französischen Aufklärung im 18. Jahrhundert zu diskutieren.“ 223 Dass Rousseaus Entwicklungstheorie nicht einflussfrei ist, lässt sich u.a. daran erkennen, dass eine von der unmittelbaren Erfahrung ausgehende Philosophie bei ihm eine wichtige Rolle spielt. 224 Viele zentrale Elemente von Rousseaus Theorie findet man in Lockes Pädagogik bzw. seinen „Gedanken über Erziehung“ wieder, wie z.B. den Naturbegriff, den Locke wiederum wahrscheinlich von Thomas Hobbes (1588 – 1679) übernahm.
Selbstverständlich haben auch seine persönlichen Erfahrungen und die Menschen seiner Umgebung Einfluss auf sein Werk genommen. So betont er beispielsweise selbst in Bezug auf die Entstehung von „Emil“: „Diese formlose und fast zusammenhanglose Sammlung von Betrachtungen und Beobachtungen habe ich einer guten und bedachten Mutter zuliebe begonnen.“ 225 Damit ist Madame de Chenonceaux gemeint, die Schwiegertochter von Madame Dupin, mit der ihn eine tiefe Freundschaft verbindet und die ihn um pädagogische Ratschläge für ihren Sohn bittet. 226 Auch mit Madame d’Epinay (1726 – 1783), die ihm später die Eremitage zu Wohnzwecken zur Verfügung stellt, spricht Rousseau oft über Erziehungsfragen. In Briefen kommt hier schon die Idee der negativen Erziehung zum Ausdruck. Bereits daraus lässt sich die Bedeutung von Rousseaus Biographie als Einflussfaktor auf sein Werk erkennen.
3.1. Rousseaus Biographie
Durch die Analyse in der Forschung stellt sich heraus, dass bei Rousseau eine persönliche Relation zwischen „Werk und Biographie“ besteht. Weiterhin sind seine Bekenntnisse in seiner Autobiographie, die eine zerrissene und kontradiktorische Persönlichkeit darstellen, ein Grund, Rousseau unter die Lupe zu nehmen. Cassirer ist z.B. der Auffassung, „(...) es war nötig, dass ein Mensch einmal sich selbst malte, um uns den primitiven Menschen zu zeigen; und wäre der Autor nicht ebenso einzigartig wie seine Bücher gewesen, so hätte er dieser Bücher niemals geschrieben.“ 227 Er stammt aus „kleinbürgerlichen Kreisen“ und schafft durch persönlichen Fleiß den Weg zur „Gelehrtenkarriere“. Die Integration in die neuen Kreise fällt ihm schwer, weshalb er in eine massive Kontradiktion „mit sich und der Welt“ 228 gerät. Er kann sich von den „Gelehrten aus großbürgerlichem Haus“ distanzieren, denn sie haben mit ihrem Optimismus ihren Beitrag zum ökonomischen Aufschwung geleistet. Rousseau zählt nicht zu den Aufklärern dazu, die mit einer guten Reputation zu erwähnen sind.
Rousseau wird als Kind eines Uhrmachers im Jahre 1712 in Genf geboren. Seine Mutter stirbt bei der Geburt und er muss dadurch einen Teil seiner Kindheit nur mit seinem Vater verbringen, der ihn allerdings sehr liebt. „Der Schmerz um die verlorene Gattin erhöhte die Liebe zum Kinde, dessen Geburt der Mutter das Leben gekostet hatte – oft weinten Vater und Kind zusammen über den gemeinsamen Verlust.“ 229 Deshalb verbringt Rousseau auch mehr Zeit mit seinem Vater als mit anderen Kindern. „Immer hockte der kleine Junge mit dem Vater zusammen, wenn dieser vor der Werkbank saß und die feinen Mechaniken der Uhren zusammensetzte; immer lebte dieses seltsame Paar in den romantischen Vorstellungen, sentimentalsten Empfindungen, idealsten Sphären, schwelgend in den rührenden Konflikten schöner Seelen mit trivialen Wirklichkeit.“ 230 Seine Mutterlosigkeit spiegelt sich auch stark in „Emil“ wieder. Emil wächst ebenfalls ohne Mutter bzw. nur mit seinem Erzieher auf und Rousseau erachtet es auch nicht als wichtig, dass eine Frau die erzieherischen Aufgaben bei einem Kind übernimmt. Ihre Aufgabe ist es lediglich, das Kind zu stillen und sobald es nicht mehr die Muttermilch benötigt, muss es in die Hand des Vaters übergeben werden. „Wie die Mutter die wahre Amme ist, so ist der Vater der wahre Lehrer. (...) Aus der Hand der einen muss das Kind in die Hand des anderen übergehen.“ 231
Seine jungen Jahre werden größtenteils durch die herrschenden Verhältnisse seines Geburtsortes beeinflusst. Der fundamental moralische Calvinismus 232 sowie der patriotische Republikanismus lassen Rousseaus Gedanken sich nicht als „tabula rasa“ entwickeln. „Keine gleichaltrigen Gespielen hatte der in der Treibhauswärme des väterlichen Heims eingekapselte und verzärtelte Knabe, und das natürliche Augenmaß für die realen Dinge dieser Welt, woran sich die Kinder aus nüchternem Bürgermilieu bald gewöhnen müssen, blieb ihm fremd.“ 233 Diese „Isolation“ betrachtet Rousseau keinesfalls als negativ, sondern ganz im Gegenteil betont er: „Je suis né, a-t-il dit [Rousseau] « dans une famille où régnaient les mœurs et la piété ».“ 234 Zwei Jahre verbringt er jedoch auf dem Land beim Pfarrer Lambercier, wo er „(...) neben Latein den ganzen Plunder lernte, den man dranhängt als sogenannte Erziehung.“ 235 In dieser Zeit wird aus dem schwächlichen Jean – Jacques ein kräftiger Junge und es entwickelt sich auch seine Liebe zur Natur. Diese positive Wirkung der Natur auf ihn bzw. seine persönliche Erfahrung haben einen großen Einfluss auf seine Entwicklungstheorie, wenn er später in „Emil oder über die Erziehung“ postuliert: „Schickt also eure Kinder auf das Land, damit sie sich dort gewissermaßen selber erneuern und inmitten der Felder die Kräfte holen, die man in der ungesunden Stadtluft verliert.“ 236 Leider muss Rousseau Bossey verlassen und nach Genf zurückkehren, weil er aufgrund einer ungerechten Strafe trotzig und unlenkbar wird. Er wird zu unrecht beschuldigt, den Kamm von Mademoiselle Lambercier zerbrochen zu haben. Da er es aber wirklich nicht war, gibt er es selbstverständlich auch nicht zu. Sein Verhalten wird deshalb als Eigensinn betrachtet und man verhängt somit eine harte Strafe. 237 Auch dieses Erlebnis beeinflusst Rousseaus Denken und er integriert es in seinem Werk. Mit Nachdruck warnt er vor Strafen durch den Erzieher. „Legt ihm [dem Zögling] keinerlei Strafe auf, denn er weiß nicht, was Schuld ist. Lasst ihn niemals um Verzeihung bitten, denn er kann euch nicht beleidigen. Da seinen Handlungen keine sittliche Haltung zugrunde liegt, kann er nichts tun, was sittlich schlecht ist und eine Strafe oder einen Verweis verdient.“ 238 Schließlich gibt es noch ein weiteres Erlebnis bei Pfarrer Lambercier, das Rousseau sogar direkt im „Emil“ zum Ausdruck bringt. Es handelt sich dabei um eine Erfahrung, die er in der Dunkelheit gemacht hat. Er macht sich über seinen Mitbewohner, Vetter Bernard, lustig, der Angst in der Dunkelheit hat. Daraufhin will der Pfarrer Rousseaus Mut auf die Probe stellen und schickt ihn allein in die Kirche, um die Bibel zu holen. Obwohl er sich sehr fürchtet, schafft er es letzten Endes, nur weil er sich nicht vor seinem Vetter blamieren will. Diese Erfahrung betrachtet Rousseau zwar nicht als Vorbild, „(...) aber sie ist ein Beweis, dass nichts geeigneter ist, einem die Angst vor der Dunkelheit zu nehmen, als im Nebenzimmer eine Gesellschaft zu hören, die lacht und sich friedlich unterhält.“ 239 Außerdem sollte man die Kinder in der Dunkelheit niemals allein wegschicken, außer man ist sich vollkommen sicher, dass sie keine Angst haben.
Als Rousseau zehn Jahre alt wird, muss sein Vater Genf verlassen, sodass der junge Jean – Jacques bei seinem Onkel mütterlicherseits, Monsieur Gabriel Bernard, untergebracht werden muss. Die Trennung von dem Vater fällt ihm sehr schwer, was Rousseau auch im „Emil“ betont, als er von seiner Beziehung zu Emil berichtet, denn niemand darf die beiden ohne ihr gegenseitiges Einverständnis trennen. „(...) man darf uns, außer mit unserer Einwilligung, niemals trennen. (...) und ich würde sogar verlangen, dass Zögling und Erzieher so unzertrennlich seien, dass sie ihr beiderseitiges Los als gemeinsames Schicksal empfänden.“ 240 Diese schicksalhafte Bindung zwischen Zögling und Erzieher entspricht der Beziehung von Rousseau und seinem Vater, die ihre Mutter bzw. Frau verloren haben.
Als er später wieder in Genf ist, beginnt er mit einer Kunststecherlehre. Im Alter von 16 Jahren entschließt sich Rousseau Genf zu verlassen, da er einerseits die Brutalität seines Meisters nicht mehr ertragen kann und es ihm andererseits aufgrund seiner ärmlichen Verhältnisse sehr schlecht geht. Auf der Suche nach Glück hält er sich über mehrere Jahre sowohl in Italien als auch in Frankreich auf. In dieser Zeit lernt er auch Madame de Warens kennen, die in seinem weiteren Leben eine noch bedeutende Rolle spielen sollte. 241 In Turin, wo sich Rousseau in einem Kloster auf die Konversion zum Katholizismus vorbereiten soll, muss er viele Entbehrungen in Kauf nehmen. Dieser Tiefpunkt in seinem Leben wird auch in der Rahmenerzählung des Glaubensbekenntnisses des savoyischen Vikars im „Emil“ deutlich. Rousseau stellt sich hier nämlich selbst als konvertierter Calvinist und Proselyt dar. „Doch ich bin müde, weiter in der dritten Person zu reden. Es ist auch völlig überflüssig, denn du ahnst wohl, lieber Mitbürger, dass ich selbst dieser Flüchtling bin.“ 242 Glücklicherweise nimmt sich ein Geistlicher, Abbé de Gaime, Rousseaus an und fördert ihn. Dieser Abbé ist wohl auch das Urbild des savoyischen Vikars im „Emil“.
Auf dem Weg nach oben übernimmt Rousseau unterschiedliche Tätigkeiten, u.a. „Steuerbeamter, Dolmetscher, Musiklehrer und Erzieher.“ Seine persönlichen Erfahrungen mit Ärzten in den Jahren 1732 – 1736 prägen seine Einstellung gegenüber der Medizin und manifestieren sich ebenso später in seinem Werk „Emil oder über die Erziehung“. 243
Eine erzieherische Funktion bekommt Rousseau per Zufall 1740 in Lyon bei Monsieur Jean Bonnot de Mably, dessen zwei Söhne er betreuen soll. „In seinem „Erziehungsplan“, der den künftigen Verfasser des „Emil“ ahnen lässt, legt Rousseau seinem Auftraggeber seine pädagogischen Grundsätze dar. Er verlangt die volle Autorität über die Kinder, versichert aber, diese niemals für körperliche Züchtigung zu verwenden, da man „(...) keinen entehrenderen Gebrauch von seiner Hand machen könne, als wenn man sie zur Misshandlung eines Kindes verwendet“. 244 Seine erzieherischen Konzeptionen lassen sich jedoch leider nicht konkretisieren, da Rousseau kein Mann der Praxis ist 245 , wie er selbst später zu Beginn seines Werkes „Emil oder über die Erziehung“ einräumt. 246 Dies zeigt sich außerdem daran, dass nicht er die praktische erzieherische Verantwortung für seine eigenen leiblichen fünf Kinder übernimmt, sondern sie alle ins Pariser Findelhaus übergibt. Die Mutter seiner Kinder, seine aus einfachen Verhältnissen stammende Lebensgefährtin Madame Thérèse Levasseur 247 , lernt er 1745 in Paris kennen, heiratet sie aber erst 21 Jahre später standesamtlich. In dieser Zeit macht er auch bereits die Bekanntschaft mit Diderot. Rousseau, der es in keiner Hauslehrerposition länger aushält, entscheidet er sich letzten Endes für ein Selbststudium der Musik und dafür, durch intensive Beschäftigung mit der zeitgenössischen Philosophie und Literatur zum „homme des lettres“ zu werden. Bei ihm wurde das Interesse für Lektüre ohnehin frühzeitig durch seine besondere Bindung zu seinem Vater geweckt. „Des Abends pflegten sie [Rousseau und sein Vater] miteinander Romane und wissenschaftliche Schriften zu lesen, „(...) bis die Vögel am Morgen zwitscherten“. 248 Seine Karriere als Musiker und Literat versucht er zielstrebig in Paris, „(...) dem Zentrum der französischen Aufklärung“ mit dreißig. Auch seine erste Zeit in Paris ist sehr hart und durch viele „schlechte“ Erfahrungen geprägt. Obwohl er anfangs viel und hart arbeitet, um zu den „wichtigsten“ Personen „der Pariser Salons“ zu gehören und Erfolg zu haben, muss er trotzdem viele Demütigungen und Enttäuschungen wegen seines Misserfolgs ertragen. Schließlich findet er Zugang zum „Aufklärerkreise“ mit den französischen Philosophen und Literaten sowie den sogenannten „Enzyklopädisten“ und wird außerdem berühmt. Sein erster großer Erfolg zeigt sich daran, dass er mit seinem „Diskurs über die Künste und Wissenschaften“ den ersten Preis der Akademie bekommt. Währenddessen erzielt er außerdem eine ausgezeichnete Leistung auf musikalischer Ebene mit seiner Oper „Der Dorfwahrsager“ und schließt Freundschaft mit Friedrich Melchior von Grimm. Obwohl Rousseau erfolgreich ist, fällt ihm die Integration in die Pariser Gesellschaft schwer. „Er blieb eine Art Außenseiter im Kreise der Philosophen, Wissenschaftler und Künstler, auch in seinem Benehmen, das an einen „Bären“ erinnerte, der sich aus dem Walde in die Stadt verirrt hatte.“ 249 Außerdem gerät er massiv in individuelle und prinzipielle Kontradiktionen. „Sobald wir unserer Eindrücke bewusst werden, suchen wir die betreffenden Gegensätze zu erstreben oder zu fliehen; anfangs je nachdem sie uns angenehm oder unangenehm sind, später je nach der Zuneigung oder der Abneigung, die wir zwischen uns und jenen Dingen finden; schließlich urteilen wir vernünftig über ihren Wert für unser Glück und unsere Vollkommenheit.“ 250 Dadurch verabschiedet sich Rousseau nicht nur von der Gesellschaft, sondern auch vom gebildeten Leben der Pariser Salons. Er bevorzugt das Leben auf dem Land, weit ab von seiner gewohnten Umgebung, um vielleicht eine Selbstreflexion betreiben zu können. Er zieht sich als Reaktion auf die ihn nicht akzeptierende Gesellschaft zurück und es kommt zwischen Rousseau und seinen Freunden Diderot und Grimm zum Streit. Mit Diderot kann er sich wieder versöhnen, mit Grimm jedoch bricht er völlig. Da Rousseau finanzielle Unterstützung von seinen Freunden erhält und diese ihm Undankbarkeit vorwerfen, zieht er sich völlig zurück, denn er ist der Auffassung, dass er selber auch viel Zeit und Gefühle in die Freundschaft investiert hat. Auch diese Erfahrung zeigt den Einfluss auf „Emil“, denn „(...) er [Emil] soll ihnen [den Notleidenden] nicht nur mit dem Geldbeutel beistehen, sondern für sie sorgen: ihnen dienen, sie beschützen, ihnen seine Person und seine Zeit opfern; sich zum Anwalt ihrer Angelegenheiten machen.“ 251
Ein weiterer Grund dieses Streits ist u.a. auch seine unerfüllte Liebe zu Madame d’ Houdetot (1730 –1813), deren Vornamen Sophie höchstwahrscheinlich in Relation mit der späteren Frau von Emil, die nämlich auch Sophie heißt, gesetzt werden kann. Sein neues Domizil ist ein Gartenhäuschen im Walde von Montmorency, das Madame d’ Epinay (1726 – 1783) gehört und wo er nach 5 Jahren - nämlich 1761- „Julie ou la nouvelle Héloise“ verfasst.
Genau dieser Wald ist es auch, in dem Rousseau mit seinem Emil einen Spaziergang unternimmt, um seinen Zögling mit der Nützlichkeit der Himmelskunde vertraut zu machen. 252
Als ein Jahr später sein Werk „Emil oder über die Erziehung“ erscheint, muss Rousseau in die Schweiz fliehen, da er sonst wegen der Inhalte seines Buches verhaftet worden wäre. Aber Genf, seine Geburtstadt, gibt ihm keine Unterstützung und Rousseau muss weiter fliehen, bis er Zuflucht beim englischen Philosophen David Hume (1711- 1776) findet. Allerdings fühlt er sich hier nicht wohl und kehrt 1770 nach Paris zurück, lebt aber ganz zurückgezogen und schreibt seine „Bekenntnisse“. Die letzten Jahre seines Lebens verbringt er dort, bis er 1778 nach Ermenonville zieht, wo er am 2. Juli des selben Jahres stirbt und auch begraben wird. Nun ist „(...)dem Manne der Natur und der Wahrheit“ 253 – wie es auf seiner Grabinschrift heißt – der ewige Frieden gegeben worden. Erst 1794 werden Rousseaus sterbliche Überreste in den Panthéon von Paris überführt.
Doch auch noch nach seinem Tod leben seine Gedanken weiter und beeinflussen viele renommierte Pädagogen. „Basedow, Wolke, Campe, Salzmann und Pestalozzi – sie alle traten in die Fußstapfen des „citoyen de Genève“ (...).“ 254 So wie Rousseau u.a. diese Pädagogen stark beeinflusst hat, so wurden selbstverständlich auch er und seine pädagogischen Ideen von bestimmten Personen geprägt und beeinflusst.
3.2 Bemerkenswerte Personen
Zu den bemerkenswerten Personen und Persönlichkeiten, die starken Einfluss auf Jean – Jacques Rousseau ausgeübt haben, werden u.a. Madame de Warens, Thérèse Levasseur, John Locke, Diderot und Voltaire gerechnet. Es kann selbstverständlich nicht auf alle Personen, die ihn geprägt haben, Rücksicht genommen werden. Aber eine Frau wie Madame de Warens, die eine besondere Rolle in seinem Leben spielt, muss natürlich erwähnt werden. Außerdem wird John Locke (1632 – 1704), mit dem sich Rousseau während seines zweiten Aufenthaltes in Annecy bei Madame de Warens intensiv beschäftigt, 255 dazu gezählt. Es wird sich zeigen, dass auch Locke von besonderer Bedeutung und Relevanz für Rousseaus Entwicklungstheorie ist. Die Parallelität zwischen ihren Ideen ist so unübersehbar, dass man annehmen muss, Lockes Gedanken hätten Rousseau in hohem Ausmaß beeindruckt und geprägt. Auch einige Zeitgenossen bzw. Kollegen von Rousseau werden in diesem Zusammenhang berücksichtigt, da er z.B. mit Diderot und Voltaire in engem persönlichem Kontakt stand.
3.2.1 Einflussreiche Frauen
Es ist bekannt, dass Rousseaus Verhältnis zu Frauen nicht gerade als ein gewöhnlicher Umgang mit dem anderen Geschlecht zu betrachten ist. Es stellt sich nun die Frage, inwiefern diese Frauen Einfluss auf Rousseaus Leben bzw. auf sein Werk „Emil oder über die Erziehung“ genommen haben.
3.2.1.1 Madame de Warens (1699 – 1762)
„Kein anderes Verhältnis ist für seine [Rousseaus] intellektuelle und emotionale Entwicklung so bedeutsam gewesen wie diese Liebe zu der um zwölf Jahre älteren Frau, die ihm sowohl Mutter wie Geliebte war.“ 256 Francoise – Louise de Warens ist überhaupt die einflussreiche Frau in Rousseaus Leben. Rousseau lernt sie in Annecy kennen. Bei seiner Ankunft dort, „(...) ist er nicht nur entzückt von den mittelalterlichen Arkaden, Türmen und Kanälen, sondern auch die erste Begegnung mit der künftigen Protektorin überrascht ihn aufs angenehmste. Er steht einer hübschen, jugendlichen Frau gegenüber, blickt in die bezauberndsten blauen Augen unter der reichen Krone ungewöhnlich schönen Blondhaars, sieht die liebreizende Wölbung der vom Busentuch knapp verhüllten Brust.“ 257 Diese Begegnung ist entscheidend für Rousseaus weiteren Lebensweg. „Le jeune garcon est immédiatement et totalement séduit: il l’ adore tout entière, dans sa physionomie comme dans son catholicisme.“ 258 Sie hat dort die Aufgabe, verlorenen Genfern bei der Konvertierung zum Katholizismus zu helfen. Rousseau konvertiert in Turin zum Katholizismus, nicht aus der tiefsten Überzeugung dieser Glaubensrichtung, sondern weil er sich in Madame de Warens blind verliebt hat. Er sagt sogar: „Une religion prêchée par de tels missionnaires ne pouvait manquer de mener au paradis.“ 259 In Annecy, wo er Zuflucht findet, redet ihm Madame de Warens zu, über seine Zukunft nachzudenken und verlangt von ihm, eine Ausbildung zu machen. „Il [Rousseau] est indifférent, tâte de la carrière ecclésiastique au séminaire d’ Annecy puis, féru de musique, quitte le séminaire pour la maîtrise de la cathédrale, puis fait un bref séjour à Lyon et revient une fois encore à Annecy.“ 260 Madame de Warens, die Rousseau „Mama“ nennt, ist für Rousseau während seiner ziellosen Jahre der einzige Angelpunkt. Sogar eine prägende Erfahrung mit zwei Mädchen seines Alters bleibt hoffnungslos, weil er mit Frauen seines Alters nichts anfangen kann. Im Juni 1730 kurz vor seinem 18. Geburtstag trifft Rousseau erneut per Zufall zwei charmante Personen von 17 und 20 Jahren, Mademoiselle de Graffenried und Galley. Er ist schüchtern, traut sich nicht mit ihnen in Konversation zu treten, fühlt sich in Verlegenheit und wird rot. Schließlich kommt es aber zu einem unschuldigen Flirt, weil sie doch immerhin zu dritt sind. „Le souvenir de cette idylle ne cessera de faire gonfler de nostalgie et de mélancolie le cœur de Rousseau.“ 261
Obwohl Rousseau Frauen liebt, fürchtet er sich doch ein bisschen vor ihnen und vor dem, was sie von ihm verlangen können. Er zieht eine Gesellschaft sowie eine Korrespondenz zu dritt vor, denn ihm ist ein tête – à – tête unangenehm. Rousseau verhält sich immer indolent und unbedacht. Er beginnt eine Reise zu Fuß durch „Annecy, Nyon, Fribourg, Lausanne, Vevey, Neuchâtel, Berne, Soleure, Paris, Lyon.“ 262 , ohne präzise Ziele zu haben, die vielleicht seine Energie als Motivation erklären könnten. Rousseau beendet diese einjährige Reise und kehrt zu Madame de Warens, die sich inzwischen in Chambéry niedergelassen hat, zurück. Diese macht sich Sorgen um Rousseaus Lebensführung und betont wieder, dass er an seine Zukunft denken muss. „Une fois encore, elle lui demande de songer à son avenir, de s’établir.“ 263 Rousseau erhält durch Einfluss von Madame de Warens eine Tätigkeit im „bureaux du cadastre de Savoie“ 264 . Er verzichtet nach kurzer Zeit darauf, da ihm die Arbeit nicht gefällt und entscheidet sich dafür, den Mädchen einer Familie in Chambéry Musikunterricht zu geben. Während dieser Zeit geht Rousseau eine Intimität mit Madame de Warens ein, damit er von seinen Schülerinnen verschont bleibt, obwohl Madame de Warens, die eigentlich mit Claude Anet, der im März 1734 stirbt, verheiratet ist. „Pour l’empêcher, lui dit – elle, de succomber aux charmes trop verts de ses écolières, Madame de Warens prends néanmoins le parti de le traiter en homme. 265 Rousseau hat dadurch seine religiösen Werte massiv verletzt. Durch den Einfluss von Madame de Warens lernt Rousseau nicht nur peu à peu den Sinn und den Geschmack einer anderen Welt kennen, die sich von den Calvinisten gründlich differenziert, sondern er bekommt auch den Wunsch, sich zu behaupten. 266
Rousseau hat sowohl gesundheitliche als auch finanzielle Schwierigkeiten, als er sich von 1734 – 1740 bei Madame de Warens aufhält. Sie mietet sogar im Jahre 1736 ein Ferienhaus, wo sie sich während der guten Saison die Zeit vertreiben und Rousseau gerät in massiven Widerspruch zu seiner calvinistischen Erziehung. Er bekommt im Juli 1736 seinen Erbteil in Genf und lässt sich Ende des Sommers in Montpellier „polype au cœur“ behandeln. Nichtsdestotrotz ändert sich seine Auffassung gegenüber dem anderen Geschlecht nicht. Obwohl er mit Madame de Warens praktisch liiert ist, lässt er sich während seiner Reise von Madame de Larnage bezaubern. „Au cours du voyage de Chambéry à Montpellier, il [Rousseau] se laisse séduire par une brûlante compagne de route : Madame de Larnage.“ 267 Dies betrachtet Rousseau als eine wichtige Erfahrung seiner Sinnenlust, denn er betont etwa dreißig Jahre später, „(…) sans elle, racontera – t – il une trentaine d’années plus tard, il serait mort sans avoir connu la volupté.“ 268 Zurück von Montpellier findet er Monsieur Winzenried zusammen mit Madame de Warens vor, weshalb er auf eine weitere intime Beziehung zu ihr verzichtet und sie lediglich als seine „Mutter“ betrachtet. Er befreit sich von dieser Sorge und setzt seine ganze Kraft systematisch dazu ein, sich in der Welt zu behaupten. Nach vielen Jahren besucht Rousseau mit Thérèse auf dem Weg nach Genf Madame de Warens in Chambéry. „Il la trouve usée, déchue, méconnaissable.“ 269 Einige Wochen später besucht Rousseau sie ein zweites Mal und lädt sie zu sich und Thérèse ein, damit sie mit ihnen zusammen lebt. Doch Madame de Warens lehnt dieses Angebot ab. Sie trennen sich diesmal für immer und sehen sich nicht mehr. Rousseau fühlt sich bei der Trennung nicht wohl, denn „(…) selon lui, le devoir lui commandait sans équivoque de ne pas quitter la vieille femme qu’ il avait appelée Maman, de tout abandonner pour elle et de la récompenser ainsi de sa générosité d’autrefois (…).“ 270 Rousseau wirft sich Undankbarkeit vor und er glaubt, er hätte alles liegen lassen und sich um Madame de Warens kümmern müssen, wie sie es mit ihm gemacht hatte, als er Hilfe benötigte. Dieser Satz Rousseaus macht deutlich, welchen Einfluss Madame de Warens in seinem Leben gespielt hat, denn er sagt: „De tous les remords que j’ai sentis en ma vie, voilà le plus vif et le plus permanent.“ 271 Seine Undankbarkeit gegenüber „Maman“ zählt Rousseau zu den drei Grundfehlern, die er im Laufe seines Lebens begangen hat. Dies zeigt außerdem, welchen Stellenwert er dieser Frau beimisst. Es ist verständlich geworden, dass Rousseau Madame de Warens eine so entscheidende Rolle in seinem Leben zukommen lässt. Sie war für ihn nicht nur Mutter, sondern auch Geliebte und Protektorin. Daxner behauptet, in der Figur von „Julie“ verkörpere sich sogar Madame de Warens. 272 Insofern kann behauptet werden, dass Madame de Warens direkten Einfluss auf Rousseaus Werke hatte.
3.2.1.2 Thérèse Levasseur (1721 – 1801)
Rousseau lernt seine Lebensgefährtin, Thérèse Levasseur, 1745 in Paris kennen, lebt viele Jahre mit ihr in wilder Ehe zusammen und heiratet sie schließlich erst standesamtlich im Jahre 1768.
Rousseau lebt nach dem Streit mit einigen Zeitgenossen in fast völliger Abgeschiedenheit. Er hat kaum noch Kontakt mit der Außenwelt und nur eine einzige Person bleibt ihm treu. Es ist Thérèse Levasseur. „Denn krank, bedenklich krank ist der Mann, der da unter einem Berg von Decken und Kissen in der eisig kalten Dachstube liegt.“ 273 Die Aufregungen haben bei ihm einen Nervenzusammenbruch hervorgerufen. Außerdem bekommt er einen heftigen Anfall seines alten Blasenleidens und hinzu kommt, dass er sich durch den Umzug in die „neue“ Unterkunft, einen Leistenbruch zuzieht. Diesbezüglich ist eine ärztliche Intervention von Notwendigkeit. Dr. Thierry, ein alter Pariser Bekannter, behandelt ihn. „Aber obwohl die von dem Arzte applizierten Beruhigungs- und Stärkungsmittel, Harnsonden und Bruchbandagen dem leidenden Linderung seiner Körperschmerzen verschaffen, frisst sich seelische Qual immer tiefer in ihn hinein.“ 274
Für Thérèse bedeutet zwar das abgeschiedene Leben eine Verschlechterung der Lebensverhältnisse, aber in der elenden „Baracke“ kann sich d’Epinay 275 nicht „(...) als mildtätige Gönnerin unverschämt aufspielen, und auch (...) keine Gräfin d’Houdetot 276 wird es verlocken, den Fuß in diese baufällige Hütte zu setzen.“ 277 Thérèse ist nämlich eifersüchtig auf diese beiden Frauen, da Rousseau eine starke Zuneigung zu ihnen empfindet. Rousseau ist – wie bereits erwähnt – in dieser Zeit von seinem Bekannten- und Freundeskreis isoliert und doch kann er sich auf Thérèse voll verlassen, denn „(...) sie tut das, was kein Zeitgenosse Jean – Jacques’ würdigen, was keiner seiner Biographen, kein Geschichtsschreiber und Literaturhistoriker späterer Zeiten erwähnenswert finden wird, obwohl ohne Thérèse Levasseurs treue Hilfe und robuste Kraft das Genie Rousseau elend zugrunde gegangen wäre in diesem Winter seines völligen moralischen und körperlichen Zusammenbruchs.“ 278 Auch seine bemerkenswerte Produktivität in der Hütte kann u.a. in Zusammenhang mit seiner Beziehung zu Thérèse gesehen werden.
„Zum erstenmal nämlich bindet sich Rousseaus unterster Geist an stetigen Arbeitsplan, schafft er in Regelmäßigkeit und Selbstzucht ein phantasievolles Kunstgebilde, das nicht formlos zerfließt wie seine mehr nachahmenden als ursprünglichen dichterischen und kompositorischen Anfangserzeugnisse: ein Werk, dessen ebenfalls nicht ganz vorbildfreie Idee er schon früher mit sich herumtrug, jetzt aber erst mit Eigenem erfüllt und unter der Inspiration seines ausgeglichenen Gefühlszustandes harmonisch ausgestaltet.“ 279 Diese außergewöhnliche Unterstützung Levasseurs mag zwar in der Geistesgeschichte wenig relevant sein, sehr wohl aber in der werturteilsmenschlichen Dimension. „Sie [Levasseur] nimmt in unermüdlicher Bereitschaft die peinlichen Pflege – und Heilprozeduren vor, die dem Kranken Erleichterung verschaffen und ihm allmählich wieder zu normalen Körperfunktionen verhelfen (...).“ 280 Das tägliche Erleben verbindet die zwei in einer außergewöhnlicher Ebene „(...) und von Tag zu Tag reicher erschließt sich dem Manne Rousseau das Gefühl dieses an irdischem Gut und selbst an bestechendem Reiz so armen Mädchens, das ihn jedoch mit einer Wärme, einer Innigkeit des Empfindens beschenkt, wie die schönste und geistreichste Frau der Welt es ihm nicht zu geben vermöchte.“ 281 Rousseau lässt aus Dankbarkeit z.B. am 08.03.1758 eine notarielle Abmachung anfertigen, die besagt, dass „(...) alle in dem Häuschen zu ,Mont Louis’ befindlichen Möbel und Effekten im Werte von 300 Livres als Eigentum der Thérèse Levasseur erklärt werden.“ 282 Während Rousseau sein Werk „Emil oder über die Erziehung“ anfertigt, ist Thérèse Levasseur wegen seines damaligen labilen Gesundheitszustandes nicht nur eine große Unterstützung, sondern die einzige treue Seele an seiner Seite. Denn „(...) Gesundung und Kräftigung, Sicherung und Unabhängigkeit der körperlichen, seelischen, materiellen Existenz – das ist in diesem Sommer 1758 der Lebensaspekt der beiden Menschen, die aus den Drangsalen und Stürmen des Blutes und Gefühls ihre Gemeinschaft in die Abgeklärtheit des beginnenden Alters hinübergerettet haben.“ 283 Die Beziehung von Rousseau zu Thérèse basiert auf Vertrauen, denn Thérèse fühlt sich bei ihm absolut sicher und sie versteht ihn und seine nicht einfache Tätigkeit. „Selbst als er [Rousseau] eine erneute Rückkehr zu seiner „Mama“ erwähnt – diesmal sucht er sie in Chambéry auf, wo die (...) äußerst rührige Frau ihren Wohnsitz genommen hatte – hält Thérèse diesen nun fast ununterbrochen acht Jahre währenden Aufenthalt bei der mütterlichen Gönnerin für harmlos und nur auf die wissenschaftliche und künstlerische Förderung des so vielseitig talentierten jungen Pensionärs hinzielend.“ 284 In dieser Hinsicht ist es wohl selbstverständlich, dass Thérèse, die immer zu Rousseau hält, als Einflussfaktor betrachtet wird, denn „(...) sie [Levasseur] ist die unentbehrliche Stütze des Mannes [Rousseau] geworden und damit auch seines Werkes.“ 285 Thérèse Levasseur wird im Leben Rousseaus voll integriert, denn alle Korrespondenz, die er erhält, enthält beispielsweise „(...) Grüße von und an Fräulein Levasseur.“ 286 Thérèse ist also mehr als nur eine Gefährtin, denn „(...) in ihrer unbelasteten menschlichen Einfachheit, mit der sie die Dinge sieht, vermag sie – besonders was die persönlichen Hintergründe des Geisteskampfes betrifft – eine gute Ratgeberin zu sein.“ 287
3.2.2 John Locke (1632 – 1704)
John Locke ist ohnehin die Hauptfigur, die Rousseau am meisten in Bezug auf sein Werk „Emil oder über die Erziehung“ beeinflusst hat. Rousseau setzt sich intensiv mit ihm sowohl direkt als auch indirekt auseinander – direkt, indem er Locke in seinem Werk „Emil“ mehrmals erwähnt und zitiert; indirekt, indem er einige von Lockes Gedanken übernimmt bzw. bekräftigt. Diese Tatsache kann wohl als ein erheblicher Einflussfaktor betrachtet werden. Auch die Tatsache, dass Rousseau sich bereits im Vorwort anscheinend rechtfertigt, wenn er betont: „Auch nach dem Buch von Locke, war mein Thema ganz neu (...).“ 288 , zeigt Rousseaus Vermutung, man könne ihm vorwerfen, Lockes Gedanken übernommen zu haben ganz deutlich. Zwar hat Locke nicht immer in positiver Weise Einfluss auf Rousseaus „Emil“ genommen, aber er ist dennoch von großer Relevanz, die sich auch darin zeigt, dass er sich von ihm in manchen Punkten distanziert. Dazu gehört u.a. die Auffassung in Bezug auf das Räsonieren mit Kindern. „Mit Kindern zu räsonieren war Lockes Leitsatz. (...) Der Erfolg aber scheint mir nicht für seine Empfehlung zu sprechen. Ich kenne nichts Dümmeres als altkluge Kinder.“ 289 Die besondere Rolle von John Locke soll im folgenden aufgezeigt und es muss auch deshalb an dieser Stelle auf ihn besonders eingegangen werden.
3.2.2.1 Die Ideen John Lockes
Locke widmete der Wissenschaft sein ganzes Leben und investierte es für die Entwicklung der Menschheit. „Ueberhaupt (sic) gab es kaum ein Feld des Wissens, sofern es eine Beziehung aufs Leben hat, auf das sich Locke nicht gewagt hätte.“ 290 Als Vater des modernen Empirismus und Materialismus 291 setzte sich John Locke mit der erkenntnistheoretischen These von den angeborenen Vorstellungen und Grundsätzen des menschlichen Wesens auseinander. „Locke erklärt angeborene praktische Grundsätze für sinnlos und reduziert sie auf die Grundverfassung des Menschen als praktischen Wesens, die darin besteht, von Natur aus nach dem Glück zu streben und das Unglück zu meiden.“ 292 Das menschliche Handeln ist, so Locke, praxisorientiert, d.h. es wird durch die angeborenen praktischen Grundsätze bestimmt. Der Mensch ist von Natur aus so ausgestattet, dass er immer nach dem Glück sucht und dabei Schwierigkeiten aus dem Weg zu gehen versucht. Der Mensch bevorzugt das „Gute“ und begehrt es, während er keine Dimension von Wahrheiten im Verstand besitzt. 293 Die Erziehung eines Menschen ist kein Experiment und somit muss der Individualität des Kindes Aufmerksamkeit geschenkt werden. 294 Die Anwendung des Spiels bei Kindern ist zur Erreichung dieses Ziels empfehlenswert, „(...) denn hier zeige sich die eigenthümliche (sic) Natur eines jeden Kindes am unbefangensten und reinsten, und hier an diese natürliche Grundlage des werdenden Charakters müsse dann auch das sittliche Element der Erziehung angeknüpft werden, (...).“ 295 Sollte man herausfinden, welches Talent ein Kind von Natur aus besitzt, so wird sich auch seine Erziehung darauf konzentrieren, um dieses auf eine natürliche Weise zu fördern.
Lockes „Gedanken über Erziehung“ werden im folgenden jedoch nur in Bezug auf einige relevante Affinitäten zu Rousseaus „Emil“ erarbeitet und dargestellt, da es sonst im Rahmen dieser Arbeit zu umfangreich wäre auf alle Gemeinsamkeiten und Einflussfaktoren einzugehen.
3.2.2.2 Erziehung nach John Locke
„Als höchsten Zweck der Erziehung stellt Locke ‚(...) eine gesunde Seele in einem gesunden Leibe’ auf.“ 296 Die Erziehung ist ein sehr wichtiger Faktor im Leben eines Menschen, denn sie zeigt Unterschiede zwischen Menschen. Dies prägt sich jedoch im frühen Kindesalter, denn „(...) die kleinen oder nahezu unmerklichen Eindrücke auf unsere zarte Kindheit haben sehr bedeutende und dauernde Folgen (...).“ 297 Der Zustand eines Menschen hängt in erster Linie von seiner Erziehung ab. Denken und Handeln des Menschen lassen sich größtenteils auf die Erziehung zurückführen, die sie genossen haben. Aber jeder Mensch bleibt für sein Denken und Handeln selbst verantwortlich. „Glück oder Elend des Menschen sind größtenteils sein eigenes Werk. Wessen Geist nicht ein weiser Führer ist, der wird nie den rechten Weg finden; und wessen Leib hinfällig und schwach ist, der wird nie auf ihm vorankommen können.“ 298 Körperliche sowie geistige Stärke sind durch die Erziehung erreichbar. Nichtsdestotrotz gibt es Menschen, die sich von Natur aus in ausgezeichneter körperlicher und geistiger Verfassung befinden. Dies ist aber selten der Fall, sodass die Erziehung nach wie vor zur Erreichung dieser Fähig- und Fertigkeit von großer Bedeutung ist. 299 Ein glücklicher Zustand in dieser Welt, so Locke, lässt sich mit „mens sana in corpore sano“ vollständig beschreiben. Verfügt man über diese zwei Dinge bzw. Voraussetzungen, so hat man nur wenige Wünsche und sollte einem einer von den beiden Aspekten fehlen, „(...) dem wird alles andere nur wenig nützen.“ 300 Dieser Gedanke lässt sich auch bei Rousseau wiederfinden, wenn er postuliert: „Wer sich mit einem kränklichen und schwächlichen Zögling belastet, macht sich zum Krankenpfleger statt zum Erzieher. (...) Der Körper muss stark sein, um der Seele zu gehorchen.“ 301 Die Erziehung ist auch dafür da, den „kindlichen Geist zu formen“. „Das Kind soll so viel als möglich seine zu erwerbenden Kenntnisse selbst „erfahren“, statt sie nur unverbaut auswendig zu lernen.“ 302 Die Erziehung muss in dieser Hinsicht als elterliche Aufgabe betrachtet werden. Locke zieht in diesem Sinn die Erziehung im Elternhaus der in der Schule vor. Selbstverständlich konzentriert man sich auf die „innere Erziehung“, aber dabei sollte man auf keinen Fall die körperliche Erziehung vernachlässigen.
„Ich werde daher mit dem Gehäuse beginnen und wende mich zunächst der Gesundheit des Leibes zu (...)“, 303 sagt Locke. Die Gesundheit ist für den Beruf und das Glück aller Menschen notwendig. Es braucht nicht bewiesen zu werden, dass ein kräftiger Körper in einer aufgeweckten Seele, eine entscheidende Rolle in dieser Welt spielt.
Die Betrachtungsweise, die hier betont wird, hat mit einer Arzt – Patienten – Beziehung nichts zu tun, sondern ist allein Aufgabe der Eltern. Sie müssen „(...) ohne Zuhilfenahme der Medizin zur Erhaltung und Kräftigung einer gesunden oder wenigstens nicht kränklichen Anlage in ihren Kindern (...)“ 304 beitragen. Die Gesundheit, wovon hier die Rede ist, sollte nicht die ärztliche Dimension einnehmen, sondern eine rein erzieherische bzw. pädagogische. Damit ist gemeint, dass sich die Eltern Mühe geben müssen, damit ihre Kinder kräftig und gesund bleiben. Zur Erreichung dieses Ziels kann zur Hilfe genommen werden, „(...) dass Gentlemen ihre Kinder behandeln sollten wie rechte Pächter und wohlhabende Bauern die ihrigen.“ 305 Man sollte Kinder weder im Winter noch im Sommer zu warm kleiden. Das Gesicht eines Menschen ist bei der Geburt nicht weniger empfindlich als die restlichen Körperteile. Es ist eine Frage der Gewohnheit, die es dem Menschen ermöglicht, abgehärtet zu sein und somit größere Kälte oder Wärme zu ertragen. Dieser Ansicht schließt sich Rousseau auch an und betont: „Im allgemeinen zieht man die Kinder, besonders im ersten Alter zu dick an. (...) Große Kälte macht ihnen nichts aus, wenn man sie früh daran gewöhnt.“ 306 Die Kindheit spielt diesbezüglich eine entscheidende Rolle. Je früher Menschen mit bestimmten Ritualen vertraut gemacht werden, desto besser beherrschen sie diese. Dem Körper kann ohne Schmerz und Gefahr „alles“ zugemutet werden, wenn man mit „natürlicher Gewohnheit“ rechtzeitig beginnt und darauf achtet, dass es immer wieder allmählich geübt wird. „Bereitet es [das Kind] von Anfang an auf den Zustand seiner Freiheit und auf den Gebrauch seiner Kräfte vor, indem ihr seinem Körper die naturgemäßen Gewohnheiten lasst und es instand setzt, stets Herr seiner selbst zu sein und in allem nach seinem Willen, sobald es einen hat, zu handeln.“ 307 In diesem Zusammenhang muss erwähnt werden, dass diese Gewohnheiten vom Kind internalisiert werden und sobald es nicht unter Aufsicht seines Erziehers ist, wird es trotzdem darauf achten und danach handeln. „(...) mit den Jahren muss die Freiheit kommen, und in sehr vielen Dingen muss er seiner eigenen Führung anvertraut werden; er kann ja nicht immer unter Obhut bleiben, außer unter derjenigen, die man durch gute Grundsätze und gefestigte Gewohnheiten in seinen eigenen Geist gepflanzt hat; das ist die beste und die sicherste, und um sie sollte man am meisten Sorge tragen.“ 308 Auch wenn man Vorsichts- und Verhaltensregeln so oft wie möglich wiederholt und einschärft, „(...) lassen in diesem wie in anderen Fällen nicht mehr erwarten, als was durch Übung zur festen Gewohnheit geworden ist.“ 309 Man sollte allerdings „(...) die Kinder von Anfang an als vernünftige Menschen behandeln, freilich nach Maßgabe ihres Alters und ihrer Reife und so, dass sie einsehen lernen, man behandle sie nicht nach Willkür und Laune, sondern dass man vielmehr seine guten Gründe habe zu Allem, was man von ihnen verlange.“ 310 Das Waschen mit kaltem Wasser ist sowohl für Locke als auch Rousseau von großer Relevanz, denn dieses Ritual dient nicht der Gesundheit, sondern auch der Abhärtung. Der Beginn sollte jedoch im Frühling liegen und dabei sollte darauf geachtet werden, dass das Wasser zuerst lauwarm ist. Immer wieder muss die Temperatur des Wassers sinken, bis man tatsächlich sowohl im Sommer als auch im Winter nur kaltes Wasser verwendet. 311 Der Übergang ist ein wichtiger Faktor, „Denn man sollte hier wie bei allen anderen Abweichungen von der gewohnten Lebensweise darauf achten, dass der Wechsel allmählich, unmerklich und stufenweise geschieht (...)“ 312 Diesbezüglich sind sich die beiden Denker völlig einig und Rousseau schließt sich Locke sogar wortwörtlich an, indem er mit Nachdruck sagt: „Um ihnen [den Kindern] keinen Schaden zuzufügen, muss dieser Übergang langsam, stufenweise und unmerklich vor sich gehen.“ 313 Der Körper wird sich auf diese Art ohne „Schmerz und Gefahr“ an vieles nicht nur anpassen, sondern es kann ihm dadurch auch alles zugemutet werden. Auch die Germanen und die Iren haben bewiesen, dass Kinder ohne jede Gefahr ein Vollbad in kaltem Wasser ertragen können. 314 Man sollte außerdem den Kindern das Schwimmen beibringen, wenn sie alt genug sind und ein Lehrer sollte dabei zur Verfügung stehen. Das Schwimmen ist so relevant, dass es Leben retten kann. „(...) Die Römer hielten es für so notwendig, dass sie es auf eine Stufe mit den Wissenschaften stellten.“ 315 „Nec literas didicit nec natare“ wurde zu unbrauchbaren und ungebildeten Menschen gesagt. Das Kaltbaden hat so viele gesundheitliche Vorteile insbesondere in der heißen Jahreszeit, dass jede Begründung diesbezüglich nicht mehr erforderlich sei, so Locke. 316 „Man muss nur Vorsicht walten lassen, dass er [der Mensch] nie ins Wasser geht, wenn körperliche Anstrengung ihn erhitzt oder eine Erregung in seinem Blut oder Puls zurückgelassen hat.“ 317
Auch Rousseau findet das Schwimmen außerordentlich wichtig. „Emil muss im Wasser zu Hause sein wie auf dem Land.“ 318 Denn wenn man nicht gelernt hat, sich im Wasser zu halten, ertrinkt man.
Ein weiterer Aspekt für die Gesundheit aller Menschen – besonders der Kinder – ist es, sich viel in frischer Luft aufzuhalten, empfiehlt Locke. Rousseau bevorzugt die Landluft, weil ihm die Stadtluft schädlich erscheint. 319 Seine Auffassung hinsichtlich der Bekleidung und des „sich nicht in die Angelegenheit der Natur Einmischens“ scheint auch von Locke übernommen zu sein. Locke empfiehlt, die Kleider eines Jungen niemals eng zu schneiden, vor allem nicht im Brustbereich und postuliert: „Man lasse der Natur Spielraum, den Körper so zu bilden, wie sie es für richtig hält.“ 320 Die Natur arbeitet seines Erachtens ohne menschliche Vorschriften viel besser und genauer. Wenn Frauen die Möglichkeit hätten, ihren Kindern schon im Mutterleib die Form zu geben, wie sie sich später Mühe geben es zu tun bzw. sie zu verbessern, würden mit sehr großer Wahrscheinlichkeit „keine vollkommenen Kinder“ zur Welt kommen. „Diese Überlegung, meine ich, sollte geschäftige Leute (ich will nicht sagen: törichte Ammen und Schnürleibmacher) davon abhalten, sich in eine Sache zu mischen, von der sie nichts verstehen; sie sollten sich scheuen, die Natur bei der Formung der Glieder von ihrem Weg abzudrängen, da sie nicht wissen, wie auch nur das kleinste und unbedeutendste gebildet wird.“ 321 Rousseau äußert sich diesbezüglich ironisch wie folgt: „Manche Hebammen behaupten, sie könnten den Kopf eines Neugeborenen in hübschere Formen kneten; und das duldet man! Unsere Köpfe sind also vom Schöpfer schlecht geformt worden; und sie müssen erst durch Hebammen von außen und durch Philosophen von innen die rechte Form bekommen!“ 322 Die negative Einmischung des Menschen in die Arbeit der Natur kann nicht nur zu massiven Problemen, sondern auch zu irreparablen Fehlern und Schäden führen. Dies betonen beide Denker gleichermaßen. 323
Auch die Ernährung ist ein weiterer wichtiger Faktor in der Entwicklung des Kindes, deshalb sollte das Essen nicht nur naturgemäß und einfach sein, sondern vor allem kein Fleisch beinhalten, bis das Kind zwei oder drei Jahre alt ist. Man braucht das Kind auch nicht aus Sorge voll zu stopfen. Es sollte keine Bedenken geben, dass das Kind hungern wird, wenn es kein Fleisch zu sich nimmt. Seine Zähne werden sich ohne Gefahr entwickeln und es wird vor vielen Krankheiten auf natürliche Art geschützt. Die Grundlagen für seine Gesundheit werden durch eine ausgewogene Ernährung viel sicherer gelegt. Sollte das Kind aber Appetit auf Fleisch haben, so sollte darauf geachtet werden, ihm dies nur einmal am Tag und vor allem nur von einer Sorte und nicht gewürzt zu geben. 324 In Bezug auf die Mahlzeiten ist es nach Locke sinnvoll, die Macht der Gewohnheit zu vermeiden, d. h. nicht regelmäßig zu denselben Zeiten zu essen, denn wenn sich der Magen daran gewöhnt, immer zu bestimmten Zeiten Nahrung zu bekommen, wird er auch danach verlangen. Und Rousseau bemerkt dazu: „Dann lasst sie [die Kinder] essen, laufen und spielen, so viel sie wollen, und ihr könnt sicher sein, dass sie niemals zuviel essen oder Verdauungsstörungen haben werden.“ 325
Lockes Ansicht nach gehört der Schlaf ebenso zu den wichtigsten Dingen, auf die man bei den Kindern unbedingt achten muss. Das Kind braucht den Schlaf sowohl für seine Gesundheit als auch für sein Wachstum und man täte ihm einen Gefallen, wenn man dies sorgfältig berücksichtigen würde. Es stellt sich jedoch die große Frage, wann das Kind am besten sein Bedürfnis nach Schlaf befriedigen soll. Dies darf den Kindern nicht allein überlassen werden, sonst besteht die Gefahr, dass es den halben Tag nur im Bett verbringt. Am sinnvollsten wäre es selbstverständlich, wenn das Kind sich daran gewöhnt, früh morgens aufzustehen, denn dies ist für seine Gesundheit am besten. Wann man den Schlaf eines Kindes reduzieren kann, kann nicht festgelegt werden, denn dies hängt von vielen Faktoren ab, wie z.B. „Wesensart, körperlicher Kräftezustand und natürliche Anlage“, die unbedingt berücksichtigt werden müssen. „Man sollte sie regelmäßig zu ihrer frühen Stunde wecken und aufstehen lassen; doch sei man beim Wecken sehr vorsichtig; es sollte nicht hastig oder mit lauter oder schriller Stimme oder irgendeinem anderen plötzlichen und heftigen Geräusch geschehen.“ 326 Denn davor erschrecken sie sich nicht nur, sondern es schadet ihnen sehr und kann sie direkt aus der Fassung bringen.
Nichtsdestotrotz sollte man zwischen sieben und vierzehn Jahren mit dem Prozess der Schlafreduzierung beginnen. Es darf auf keinen Fall zugelassen werden, dass das Kind sich am nächsten Morgen den Schlaf wiederholt, weil es z.B. den Tag davor spät ins Bett gegangen ist. Dies kann leicht zu „Langschläfern sowie Faulheit“ führen. Wenn es aber als Erwachsener bereits den Rhythmus verinnerlicht hat, nicht spät zu Bett zu gehen und früh aufzustehen, dann passt das bekannte Sprichwort: „Morgenstunde hat Gold im Munde“. Mit zunehmenden Alter wird das Kind trotzdem dazu fähig sein, auch bis spät nachts in der Gesellschaft dabei zu sein, wenn es darauf ankommen sollte. Diesbezüglich äußert sich auch Rousseau ähnlich. 327
Lockes Erziehungskonzeptionen von „Disziplin, Lebensklugheit und Benehmen“ ist ein Entwicklungsprozess, der nach einem bestimmten System zu erreichen ist. Dies muss der Erzieher als Stellvertreter dieser drei Aspekte respektieren und sie sorgfältig sowie verantwortungsbewusst verfolgen. Da es Kindern an Urteilskraft mangelt, ist „Disziplin und Zucht“ für sie erforderlich. 328 Deshalb ist es zuerst von großer Wichtigkeit, dass das Kind dazu gebracht wird, die Gewohnheit zu entwickeln, seinem Erzieher absolut autoritätshörig zu sein, um die Vermittlung von „Lebensklugheit und Benehmen“ weiterführen zu können. Auch Rousseau ist der Auffassung, dass der Erzieher die volle Autorität über die Kinder haben muss, die er aber niemals missbrauchen wird, um seine erzieherische Aufgaben „richtig“ zu erfüllen. Dies verlangt er u.a. während seiner ersten pädagogischen Tätigkeit bei Herrn Mably. 329 Dem Erzieher sollte eine uneingeschränkte „Befugnis und Achtung“ seitens der Eltern und vor allem des Vaters gegeben werden. „Auf der Basis der auf diese Weise angewöhnten Tugenden der „Ehrfurcht“, „Achtung“, „Unterwürfigkeit“ und des „bereitwilligen Gehorsams“ (GE45) ist dann das Blatt des Individuums so weiß und leer, dass
der Erzieher zu seinen wesentlichen zwei ,bildenden' Aufgaben, nämlich Lebensklugheit und Lebensart zu lehren, übergehen kann.“ 330 Durch die Vermittlung von Lebensklugheit ist beim Kind die Vollendung „einer gelungenen gesellschaftlichen Integration“ erreicht. Das Kind erwirbt die Fähigkeit, die Welt mit ihren „guten“ und „schlechten“ Seiten zu verstehen. Der Erzieher ist dazu verpflichtet, dem Kind „Kenntnis der Menschen und ihrer Sitten“ zu vermitteln, damit das Kind lernt in einer alltäglichen Situation die wahre Absicht einer Handlung „richtig“ einzuschätzen, zu verstehen und zu handeln. „Erst das sittlich gefestigte Kind soll in das Studium der Wissenschaft eingeführt werden; richtig verstanden, bedeutet die Wissenschaft nicht Weltfremdheit, sondern Bildung des Geschmacks und ‚eine nie versiegende Quelle des Vergnügens’“. 331 Rousseau vertritt in dieser Hinsicht die gleiche Meinung wie Locke. Auch Emil soll eine gewisse Reife erreicht haben, bevor er in die Wissenschaft eingeführt werden soll. 332 Das Kind soll eine Stufe erreichen, die es ihm im Leben erleichtern wird, in einer Realitätssituation Absichten entschlüsseln zu lernen. „Lebensklugheit“ verfügt über den realistischen Blick auf eine „Welt [...], wie sie wirklich ist“ (GE106), d.h. sie weiß die Verführungen und Laster des Begehrens, die Allgegenwart des Betrugs und das Schicksal der „Gescheiterten“, die in „Unglück“, „Krankheiten“, „Dürftigkeit und Schande“ enden (GE 106), im Hinblick auf das eigene Handeln richtig einzuschätzen.“ 333 Die körperliche Abhärtung ist nach Locke die höchste Aufgabe und Voraussetzung der geistigen Erziehung. „Wenn man nun gehörig Sorge getragen hat, den Körper kräftig und tüchtig zu erhalten, sodass er imstande ist, dem Geist zu gehorchen und dessen Befehle auszuführen (...) 334 , hat man die Stufe der „Selbstbeherrschung“ erreicht. Der Geist des Kindes soll so stark geformt werden, dass es (das Kind) zu nichts seine Zustimmung gibt, „(...) was der Würde an Vortrefflichkeit eines vernünftigen Wesens widerstritte.“ 335 Und die Stärke des Leibes besteht darin, den negativen Einflüssen zu widerstehen.
Nach Locke ist auch die Religion von großer Bedeutung, denn sie führt zur Tugend. Man darf allerdings den Akzent nur auf die Werte setzen und diese nicht dogmatisch vermitteln. „Es genüge, das Kind schon ganz frühe von dem höchsten Wesen, dem Urheber und Schöpfer aller Dinge zu unterrichten, von welchem wir alles Gute empfangen und der uns väterlich liebe; der Alles sehe und höre, was wir thun (sic), und der jegliches Gut denjenigen schenke, welche ihn lieben und ihm gehorchen.“ 336 Das Kind soll dadurch „Liebe und Furcht“ zu Gott lernen. Man sollte nicht weiter die Religion predigen, sonst besteht die Gefahr, dass die Predigt beim Kind entweder zu „Aberglaube“ oder zum „Atheismus“ führt. In Bezug auf die Vermittlung der Religion kann bei Rousseau eine Abweichung zu Locke festgestellt werden, denn Rousseau ist im Gegensatz zu Locke der Auffassung, dass Kinder nicht zu früh über die Religion unterrichtet werden sollten – Mädchen jedoch früher als Jungen. 337 „Ich sehe voraus, wie viele Leser erstaunt sein werden, dass ich das erste Alter meines Schülers habe verstreichen lassen, ohne mit ihm über die Religion zu sprechen. Mit fünfzehn wusste er [Emil] noch nicht, ob er eine Seele habe und vielleicht ist es mit achtzehn noch zu früh, dass er es erfährt. Denn wenn er es früher als nötig erfährt, läuft er Gefahr, es niemals zu wissen.“ 338 Im Übrigen ähneln sich auch hier die Gedankengänge der beiden Denker. 339
Des Weiteren postuliert Locke sowohl für die Erziehung als auch für den Unterricht nicht nur auf die Individualität des Kindes zu achten, sondern auch auf seine besondere Stimmung. „Möge z.B. ein Kind noch so sehr das Lesen, das Schreiben, die Musik lieben, so werde es doch für dasselbe Zeiten geben, wo es keinen Geschmack an diesen Dingen finde.“ 340 Wenn ein Kind aber einseitiges Interesse zeigt, so sollte ihm der Erzieher unmerklich durch eine angemessene Behandlung Anregungen liefern. Dies dürfte Letzterem eigentlich nicht schwer fallen, wenn er seine Kunst versteht. Außerdem hätte das den Vorteil, dass man so leichter Disziplin im Unterricht schaffen und die Arbeitsatmosphäre verbessern könnte. Auch dieser Gedanke wird wohl auf Rousseau Einfluss genommen haben, denn auch er hält es für wichtig, auf die Individualität des Kindes zu achten und schreibt dem Erzieher eine bedeutende Rolle zu. 341 Eine weitere wichtige Gemeinsamkeit zeigt sich bei Locke und Rousseau bezüglich ihrer Ideen, die die Natur betreffen. Zwar benutzt Locke in diesem Zusammenhang den Begriff „Anmut“, den er als Antonym zur „Affektiertheit“ verstanden haben will und Rousseau den der „Natur“ bzw. der „Selbstliebe“, aber der Grundgedanke ist der gleiche. So betont Locke: „Einfache und ungekünstelte, sich selbst überlassene Natur ist viel besser als künstliches, gezwungenes Wesen und derart einstudiertes Benehmen. Dass wir irgend etwas nicht können oder einen Fehler haben, der uns vollkommene Anmut in unserem Benehmen nicht erreichen lässt, wird der Beobachtung und dem Tadel oft entgehen. Affektiertes Wesen hingegen in irgendeinem Teil unseres Benehmens rückt unsere Mängel ins helle Licht und lässt uns unfehlbar auffallen als jemand, dem es entweder an Verstand oder an Aufrichtigkeit mangelt.“ 342 Rousseaus Schüler ist außerdem ein männliches Kind. Dies kann auch in Parallelität zu Locke gesehen werden, denn „(...) in Wirklichkeit ist der Mensch, der die Gesellschaft formt, immer der Mann. Hier steht Rousseau ganz eindeutig in der Tradition von Locke und seiner Erziehung des Gentleman, also des bürgerlichen, männlichen Individuums.“ 343 „Lockes »Gedanken über Erziehung «, über das Kind, die Art und Weise des Lernens und Lehrens, die Lerninhalte usw. schlagen eine neue, zukunftsweisende Richtung ein. Pädagogisches Tun soll sich auf die »natürliche Vernunft« des Menschen und auf die Tradition und Überlieferung gründen.“ 344 Röd betont sogar: „Die pädagogischen Ideen eines Rousseau einerseits, eines Basedow andererseits wären ohne die Vorbereitung durch Locke undenkbar.“ 345 Neben John Locke, der Rousseau als nicht zeitgenössischer Philosoph durch seine Werke stark geprägt hat, sind natürlich auch einige von Rousseaus Zeitgenossen zu nennen, mit denen ihn entweder eine Freundschaft verband oder die zumindest zu dem Pariser Kreis gehörten und somit auch Einfluss auf ihn nehmen konnten.
3.2.3 Rousseaus Zeitgenossen bzw. Kollegen
Rousseaus Werk „Emil oder über die Erziehung“ beinhaltet eine „neue“ Entwicklungstheorie, deren Erkenntnisse er u.a. aufgrund seiner Beobachtungen in der damaligen Erziehungspraxis gewonnen hat. Es ist sehr wahrscheinlich davon auszugehen, dass seine Zeitgenossen bzw. Kollegen ihn auf eine bestimmte Art und Weise beeinflusst haben müssen. So behauptet Daxner z.B.: „Die materialistische Seite der Aufklärer, die Enzyklopädisten, haben Rousseau viel stärker beeinflusst, als man es in der pädagogischen Geschichtsschreibung gern wahr haben will.“ 346 Darum soll an dieser Stelle insbesondere Diderot genannt werden, mit dem Rousseau auch freundschaftlich verbunden war.
3.2.3.1 Denis Diderot (1713 – 1784)
„Die Zeitgenossen kannten Diderot nur als Autor weniger Romane, Erzählungen und Dramen, einiger philosophischer Werke, vor allem aber als unermüdlichen Herausgeber der « Encyclopédie ».“ 347 Diderot veröffentlicht zusammen mit d’ Alembert die „Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers“ 348 in 35 Bänden, an denen er insgesamt 25 Jahre arbeitet. Die Intention dieser „Encyclopédie“ war es, die Bildung aller Menschen zu fördern. „Mit der Zeit wird dieses Werk bestimmt eine Revolution in den Köpfen herbeiführen, und ich hoffe, dass die Tyrannen, Unterdrücker, Fanatiker und Intoleranten dabei nicht gewinnen werden (H 182).“ 349 Dieser Wunsch Diderots hat sich leider nur zum Teil konkretisiert, da viele Artikel bzw. Eintragungen aufgrund der damaligen Zensur gekürzt und verändert werden, sodass die Originalität der Texte mit ihren aufklärerischen Gedanken teilweise verloren geht. Außerdem erhält eine neue Gattung von Dramen durch ihn einen Namen. Während z.B. früher Trauerspiele bzw. Dramen nur adelige Protagonisten zeigen, da sie über die entsprechende „tragische Fallhöhe“ 350 verfügen, kann sich nun in der Zeit der Aufklärung auch ein Drama in bürgerlichen Kreisen abspielen. Das Bürgertum hat nämlich sowohl an Bedeutung als auch an Selbstbewusstsein gewonnen. Diderot prägt dafür den neuen Begriff „drame bourgeois“, welcher von Lessing (1729 – 1781) als „bürgerliches Trauerspiel“ ins Deutsche übersetzt wurde. Der Ursprung dieser neuen Gattung kommt allerdings aus England. „Viele andere Schriften behielt Diderot für sich; und er musste sie für sich behalten, weil er die Zensur vor Augen hatte und nicht noch einmal, wie 1749, riskieren wollte, in das Gefängnis von Vincennes geworfen zu werden.“ 351
Da Rousseau und Diderot Bekannte bzw. Freunde waren, die sich beide der Philosophie zugewandt hatten, ist davon auszugehen, dass sie sich gegenseitig geistig durch ihren Gedankenaustausch beeinflusst haben. Als ein relevanter Einflussfaktor kann in diesem Zusammenhang Rousseaus Besuch bei seinem Freund Diderot im Gefängnis von Vincennes gesehen werden. „In der Tat war es dieser Augenblick, der über sein persönliches Schicksal als Denker entschied.“ 352 Dies wird von Rousseau positiv aufgenommen und kommentiert. „Er [Rousseau] beschrieb später, dass er auf diesem Weg die Erleuchtung zur Durchdringung der wesentlichen Probleme der Menschheit gehabt und dass dieses Erlebnis ihn zum Schreiben veranlasst habe.“ 353 Es lassen sich ferner verschiedene Affinitäten zwischen Diderot und Rousseau feststellen. Beide berufen sich verschiedentlich auf Montaigne (1533 – 1592), indem sie postulieren, dass die menschlichen Erkenntnisse mit den sinnlichen Wahrnehmungen beginnen. 354 Eine weitere Gemeinsamkeit zeigt sich an ihrem Interesse an der Wahrheit. So betont Rousseau, dass er statt Philosophie die Liebe zur Wahrheit in sich trägt 355 und Diderot sagt: „Man soll von mir verlangen, dass ich die Wahrheit suche, aber nicht, dass ich sie finde ...(L 1, 16).“ 356 Ferner sind beide der Auffassung, dass nur die Natur das eigentliche Modell für die Kunst sei. Bei Rousseau soll nur die Natur der Kunstlehrer sein und die Gegenstände das Modell. 357 Diderot drückt sich ähnlich aus, wenn er äußert, „(...)die Natur bleibt Ausgangs- und Fluchtpunkt für den Künstler.“ 358 Ein weiterer gemeinsamer Gedanke der beiden lässt sich an ihrer Einstellung gegenüber der Erfahrung und der Vernunft erkennen. Beide vertreten den Standpunkt, dass man eine Philosophie der Erfahrung betreiben sollte und sich nicht auf rein rationale Vernunfterkenntnisse stützen kann. Rousseaus Rolle in der Aufklärung beispielsweise ist durch Gefühle geprägt und somit auch durch Erfahrung 359 und eben nicht durch Vernunft. In Kreimendahl wird über Diderot folgendes postuliert: „Die kühnen Behauptungen einer ‚rationalen’, von reinen Vernunfterkenntnissen ausgehenden Philosophie verschwinden vor einer auf der Erfahrung beruhenden ‚experimentellen Philosophie’, auch wenn diese sich nur tastend voranbewegt (L 1, 430f).“ 360 Auch die Tatsache, dass die Freiheit des Willens negiert wird, kommt bei den beiden Philosophen zum Ausdruck. Deshalb sind sie der Meinung, dass man nur durch Erziehung auf den Menschen einwirken kann. Rousseau glaubt an das Gute im Menschen und betont, dass er von Natur aus gut sei und nur die Umwelt ihn verderbe. 361 Die Erziehung ist für Rousseau auch in diesem Zusammenhang von größter Relevanz und nur die Natur soll den Menschen bestrafen. 362 Diderot äußert sich diesbezüglich folgendermaßen: „Der Mensch agiert wie eine ‚passive Maschine’ oder ein ‚hölzerner Automat’ (L 1, 610f.) strikt nach inneren oder äußeren Beweggründen. So soll man den Bösen nicht bestrafen, sondern bessern, den Guten ermutigen (L 1, 568). Erziehung, Einwirken auf die Natur des Menschen sind die einzigen, aber auch die allein geeigneten Mittel, Gerechtigkeit und Tugend zu verwirklichen.“ 363 Schließlich soll eine weitere Gemeinsamkeit von Rousseau und Diderot erwähnt werden. „Die ‚Herrschaft der Natur’ kann nicht aufgehoben werden, aber eine Rückkehr zu ihr gibt es für Diderot, wie auch für Rousseau, nicht (L 2, 233f.). Zwar ist es die Gesellschaft, die Tyrannen und andere Verderbtheiten hervorbringt, an denen nicht wenige ihrer Mitglieder zerbrechen (L 2, 243), aber man kann sich ihr nicht abstrakt entgegensetzen (...).“ 364 Auch in der Partnerwahl entscheiden sich beide Freunde ähnlich. Sowohl Rousseaus als auch Diderots Freundinnen sind ungebildet und stammen aus einfachen Verhältnissen. „Diese jungen Männer seines [Rousseaus] Bekanntenkreises hatten ja auch alle ihre Liebsten, die aber das waren – mit Ausnahme der ungebildeten und etwas ordinären Nanette von Freund Diderot (...)“ 365 alles gebildete Mädchen. Ein weiterer Einflussfaktor von Diderot auf Rousseaus Werk „Emil“ kann in der Spannungsphase der beiden Freunde gesehen werden. Als Rousseau sich völlig zurückzieht, sagt Diderot zu ihm, dass nur der Böse allein sei. Bei Emil verhält es sich genau konträr. Er wächst zwar in Isolation auf, ist aber gut. Es scheint, als wollte Rousseau mit seinem Werk „Emil“ seinem Freund Diderot das Gegenteil beweisen.
3.2.3.2 Voltaire eigentl. Francois – Marie Arouet 366 (1694 – 1778)
Voltaire, der eine literarische Gattung erfunden und geprägt hat – nämlich die, der philosophischen Erzählung, der „conte philosophique“, erreicht dadurch nicht nur wenige Gelehrte, sondern ein breites Lesepublikum, das er durch seine Schriften so besser beeinflussen kann, als wenn er rein theoretische Abhandlungen verfasst hätte. Rousseau hat sich wahrscheinlich dadurch inspirieren lassen. Auch er schreibt seinen „Emil“ in doppelter Funktion und wählt erzählerische Elemente für sein Werk, um seiner Theorie einen leichteren Zugang zu ermöglichen, denn das Buch kann sowohl als Roman als auch als Lehrbuch gelesen werden. „Und sein [Rousseaus] aufsehenerregender Erziehungsroman ist von ihm eher als ein anthropologisches Exempel denn etwa als Erziehungsbuch für Mütter oder Hofmeister konzipiert worden. Von seiner Wirkung her bleibt er freilich gerade wegen seines neuartigen anthropologischen Ansatzes ein Meilenstein in der Geschichte der Pädagogik.“ 367 Auch die Liebe zum Theater scheint Voltaire und Rousseau verbunden zu haben. „Voltaire sieht sich selbst zunächst als Dichter und als Theaterschriftsteller, denn auf der Bühne will er Erfolg haben.“ 368 Und zu Rousseaus Erfolg zählt u.a. seine Oper „Der Dorfwahrsager“, die am Hof von Fontainebleau mit großem Erfolg, aufgeführt wurde.“ 369 Ferner arbeitet er auch an einigen Komödien. Rousseau kommt außerdem mit einem von Voltaires Werken in Kontakt, als er aus Venedig nach Paris zurückkommt. „Rousseau est invité à mettre au point pour la scène un opéra de Voltaire et Rameau, les Fêtes de Ramire.“ 370 Beide Denker greifen außerdem auf die gleiche Quelle zurück, denn Rousseau lässt sich nicht nur von Locke begeistern, sondern übernimmt sogar die meisten seiner „Gedanken über die Erziehung“. 371
Wenn Voltaire postuliert, dass die Basis jeder Erkenntnis die Beobachtung sei, so ist dieser Gedanke nicht aus der Luft gegriffen, denn „(...) in seiner empiristischen Grundeinstellung ist er [Voltaire] von John Locke geprägt, dessen Denken er im 13. Brief der »Lettres philosophiques« vorstellt.“ 372 Voltaires Schriften fordern die Freiheit der Menschen, denn er postuliert: „Freiheit für den Menschen bedeutet auszuführen, was man will (liberté d’exécution). Es sind allenfalls Handlungsspielräume gegeben. Der Wille ist nicht frei, aber die Taten sind es (liberté de choix). Der Mensch ist frei zu tun, wenn er fähig ist zu tun.“ 373 Rousseau erkennt die Wichtigkeit der Freiheit und betrachtet sie sogar als Erziehungsmittel. Nur in der Freiheit können sich die Kräfte des schwachen Kindes frei entfalten und somit kann das Kind Stärke erwerben. Die eingeschränkte Freiheit führt zur Vernichtung der Talente und Begabungen. „Ehe die Vorurteile und die menschlichen Einrichtungen unsere Neigungen verdorben haben, besteht das Glück der Kinder wie der Erwachsenen im Genuss der Freiheit.“ 374 Es ist in Rousseaus Denken bekannt, dass der Mensch von Natur aus frei ist. „Wer nach seinem Willen handelt, ist glücklich, wenn er sich selbst genügt.“ 375 Es ist sehr wahrscheinlich davon auszugehen, dass Voltaire als renommierter Vertreter seiner Epoche, wesentliche Einflüsse auf Jean –Jacques Rousseaus Denken in vieler Hinsicht genommen hat. Es ist außerdem bekannt, dass sich die beiden Denker viel gestritten und dadurch „ungewollt“ gegenseitig beeinflusst haben, denn „(...) in seiner Zeit in Paris (...) hatte Rousseau Kontakt mit Diderot, Grimm und Condillac, sowie Voltaire.“ 376 So thematisiert Rousseau z.B. die Toleranz bereits zu Beginn des „Emil“ (1762), denn nur dadurch kann die natürliche Erziehung gelingen. „Die Klügsten bedenken nur, was Erwachsene wissen müssen, aber nicht, was Kinder aufzunehmen imstande sind.“ 377 Dies bedeutet, dass man hinsichtlich der Fähigkeit des Kindes tolerant sein muss und nicht zu viel verlangen darf. Auch Voltaire plädiert für die Toleranz, „(...) denn er sieht in ihr eine grundlegende Notwendigkeit für eine Gesellschaft, die wenig über ihre Ursprünge und ihr Ziel weiß.“ 378 und lässt dies im „Traité sur la tolérance“ im Jahre 1763 zum Ausdruck kommen. Rousseau und Voltaire scheinen mehr Gemeinsamkeiten gehabt zu haben, als man aufgrund ihrer stetigen Differenzen anzunehmen vermag. Daxner formuliert in seinem Essay über deren Verhältnis folgendes: „Insbesondere erscheint mir der dauernd mühsam konstruierte Gegensatz zwischen Rousseau und Voltaire eher eine literarische Randglosse über Temperamente und die Wahrnehmung von Wirklichkeit zu sein.“ 379 Selbstverständlich haben sich nicht nur Rousseau und Voltaire, sondern auch die anderen Aufklärer in manchen philosophischen Fragen widersprochen 380 , aber ihre Affinitäten und gegenseitige Einflussnahme sind wesentlich höher einzuschätzen. Aber Rousseau fällt die notwendige Auseinandersetzung mit Voltaire und dessen aufgeklärten Freunden nicht leicht, „(...) denn Rousseau war nicht ein so scharfer Denker wie seine Gegner“. 381
3.3 Zeitgeist bzw. zeitgenössische Konzeption (Aufklärung)
„Kaum ein Schriftsteller und Philosoph des 17. Jahrhunderts hat seine Zeitgenossen so bewegt und hingerissen wie Jean – Jacques Rousseau.“ 382 Bevor über Aufklärung (1720 – 1785) und Rousseau berichtet wird, bedarf es einer Erläuterung, um einerseits die Zeit zu beschreiben und andererseits die Rolle und die Relevanz von Rousseaus Gedanken diesbezüglich klarzustellen. „Die Aufklärung war eine von Westeuropa (England und Frankreich) ausgehende Geistesbewegung des 18. Jahrhunderts. Das Symbol der Aufklärung ist die aufgehende Sonne, die alles beleuchtet und überstrahlt („lumen ingenii“) 383 Die Sonne symbolisiert die Vernunft, die in dieser Epoche eine zentrale Rolle spielt. In der Argumentation der Aufklärung gilt etwas Vernünftiges zugleich als etwas Gutes.
In Frankreich wird durch die von René Descartes (1596 – 1650) bekannte Äußerung „cogito ergo sum“ (ich denke, also bin ich) das rein analytische Denken eingeleitet. In dieser Epoche wird die Auflösung der Wissenschaft nicht nur von ihren Bindungen, sondern auch von ihren Zwängen an die Religion erreicht. Gottfried Wilhelm Leibniz (1646 – 1716) gilt in Deutschland als „philosophischer Wegbereiter“ der Aufklärung. Mit seiner Monadenlehre (Stufenlehre) postuliert er die Relevanz „aller Stufen des Daseins“ und zwar mit allen kleinsten Details („ultima ratiorerum“). Nichts bleibt unverändert, denn jede Monade bzw. Stufe hat nicht nur das Bedürfnis in die weitere höchste Monade zu gelangen, sondern auch das Bestreben nach den bestmöglichen Welten. Das philosophische System von Christian Wolff (1679 – 1754) kann teils als das Ergebnis von der englischen und französischen Aufklärung, teils auch als weiter bearbeitete Ideen Leibniz’ gesehen werden. Seine Philosophie beruht auf folgendem Grundsatz: „(...) das, was logisch ableitbar ist, ist auch vernünftig, natürlich und moralisch gut („bonum commune“). 384 In der Epoche der Aufklärung steht die Literatur nicht in Relation mit der Philosophie sowie mit ihren ähnlichen Tendenzen in „Musik, Malerei oder Architektur“. In der Aufklärung ist die Literatur eher von unterschiedlichen pädagogischen Richtungen dominiert. Die Bildung und Formung von „Verstand und Vernunft“ ist zentral. Neben der Vernunft sind in der Aufklärung auch die Begriffe „Erziehung“, „Glückseligkeit“, „Tugend“, „Gefühl“ und „Empfindsamkeit“ 385 von Bedeutung. Die Erziehung ist in diesem Kontext wichtig, denn dadurch ist es möglich, den Menschen zur Vernunft zu bringen. Unter Glückseligkeit versteht man das harmonische zufriedene Zusammenleben der Menschen. Dies lässt sich jedoch nur durch die Tugend erreichen. Zu den Tugenden dieser Zeit gehören u.a. Pflichtbewusstsein, Fleiß, Wirtschaftlichkeit, aber auch Mitleid, Menschenliebe und Echtheit. Es werden ab Mitte des Jahrhunderts immer mehr die Gefühle und Empfindungen in der Aufklärung thematisiert. Der Zweck jedes Handelns nach Christian Wolff z.B. ist „die Glückseligkeit des Menschen“. Dies hat Konsequenzen hinsichtlich der Staatsmeinung „des sogenannten aufgeklärten Absolutismus in Europa“. Zwei Philosophen geben im Dezember 1783 in der „Berlinischen Monatsschrift“ unterschiedliche Definitionen auf die Frage, was die Aufklärung ist. Moses Mendelssohn (1729 – 1786) versteht unter Aufklärung: „(...) vernünftige Erkenntnis (objekt.) und Fertigkeit (subj.) zum vernünftigen Nachdenken über Dinge des menschlichen Lebens nach Maßgebung ihrer Wichtigkeit und ihres Einflusses in die Bestimmung des Menschen (sic).“ 386 Das gesellige Leben wird durch „Bildung, Kultur und Aufklärung modifiziert. Immanuel Kant (1724 –1804) äußert sich diesbezüglich wie folgt: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit.“ 387 Mit „Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entscheidung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen!“ 388 Dies kann als Kants „Wahlspruch der Aufklärung“ bezeichnet werden. Der pädagogische Einfluss lässt sich auf dem „Buchmarkt“ daran erkennen, dass im Vergleich zu lateinischer Literatur viel deutsche gedruckt und gelesen wird. Die Verbreitung des Wissens in Westeuropa wird damals u.a. durch diverse umfangreiche Enzyklopädien gewährleistet. Die Menschen stillen ihren Wissensdurst durch „Lexika und Zeitschriften“. Diese Epoche ist in Deutschland u.a. durch die unterschiedlichsten „Moralischen Wochenschriften“ nach englischem Vorbild gekennzeichnet. Diese Medien thematisieren alltägliche Dinge, wie z.B. das Familienleben oder die Relevanz religiöser Erziehung und dienen der Vermittlung von Bildung auf „gesellige Art und Weise“. Die Bevorzugung französischer Dichtung beeinflusst die Aufmerksamkeit des Lesers. Die Vernunft sowie die Moral sind zentrale Aspekte der Aufklärung. Aus England stellt John Locke (1632 – 1704), Vertreter des Empirismus, fest, dass die „Quelle von Denken und Erkennen“ nicht die Vernunft ist, sondern die „Sinneswahrnehmungen und Erfahrungen“. Diese Ideen werden von David Hume (1711 – 1776) übernommen und weiterbearbeitet. Dieser postuliert die These, dass der Erwerb menschlichen Bewusstseins durch „Assoziationen und Erfahrungen“ zu erreichen sei. „Die äußere Sinneswahrnehmung wurde als Ursprung der Erkenntnis jedes Menschen angesehen. Die ‚moral sense’ – Theorie ging davon aus, dass im ‚Herzen’ der Menschen das ‚natürliche Gesetz’ eingeschrieben sei und der Mensch nur darauf achten müsse, um richtig handeln zu können.“ 389 Hier wird deutlich, dass Jean – Jacques Rousseau erheblich von diesen Ideen inspiriert wird. „Rousseau behauptet (...): Der Mensch ist von Natur gut! » Alle Laster kommen nicht dem Menschen als solchen zu, sondern dem irregeleiteten Menschen.«“ 390 Deshalb stellen einige Denker u.a. auch Jean – Jacques Rousseau, der die Repräsentanten der Aufklärung wie „Voltaire, Montesquieu, Diderot, Holbach und Grimm“ 391 in den Pariser Salons kennen gelernt hat, das Vernunftdenken der Aufklärung in Frage.
Rousseau ist „(...) ni l’homme des lettres ni le philosophe que l’on croit voir. Il est ´autre`, totalement et constitutionnellement différent de ses contemporains et ne peut faire l’objet d’aucun amalgame: Il est unique de son espèce et le sera probablement autant que durera le genre humain (i.II59n).“ 392 „Rousseau wehrt sich gar nicht gegen die Vernunft, er sagt nur, die bloße Vernunft als Mittel der Interpretation ist in den Händen der falschen Leute, weshalb vieles unerkannt bleiben muss, besonders die Natur.“ 393 Das Wesen „Mensch“ kann nicht mit einer Maschine, die nur nach bestimmten vorgegebenen Ideen funktioniert, verglichen werden, da der Mensch nicht nur vielfältig, sondern in seiner Ganzheitlichkeit auch schwer bzw. unmöglich zu erfassen ist. „J. – J. Rousseau nimmt in der französischen Spätaufklärung eine besondere Position ein: Er gilt sowohl als ihr beredter Vertreter und Wortführer als auch ihr Außenseiter und kritischer Opponent.“ 394 Der Mensch kann sich nicht permanent und ewig an äußerlichen Tendenzen einer Epoche ohne eine eigene tiefe selbstkritische Beteiligung orientieren. „Sehr bezeichnend für Rousseau ist die Verflechtung der aufklärerischen geistigen Formation mit Einstellungen, die den Denkstil der Aufklärung weit überschreiten und überwinden.“ 395 Allerdings besteht der Mensch nicht nur aus rationalen, sondern auch aus emotionalen Prozessen, die genauso zu berücksichtigen sind. „Er, Rousseau, (...) schaut, betrachtet, fühlt die Zusammenhänge, das Gefühl bewegt ihn zunächst meistens zu Tränen.“ 396 Die These Raus ist diesbezüglich insofern relevant, um die „fanatische“ einseitige Denkweise der Aufklärung aufzudecken. Er postuliert, dass die Technik der aufklärerisch gemeinten Selbstbeobachtung zugleich als Therapie und Krankheit fungiert; der Aufklärer versuche sich mit aufklärerischen Rationalismen zu heilen, teilweise gelingt das, zum anderen wird die Krise erst durch das Ideal der Weltharmonie ausgelöst.“ 397 Das menschliche Handeln kann nicht nur auf „Vernunft und Moral“ reduziert werden, denn der Mensch verfügt auch
über Gefühle, die ihn in vielen Hinsichten bzw. Situationen leiten. Rousseau betont bereits während seiner kurzen erzieherischen Tätigkeit bei Herrn von Mably, wo er zwei Jungen zu betreuen hatte, „Nicht die Furcht solle die Kinder leiten, sondern die Liebe. Wichtiger als die Verstandesbildung ist die Bildung des Herzens 398 , weil diese die Grundlage für jene abgibt.“ 399 In manchen Situationen versucht er sogar gegen Vernunft und Moral zu resistieren, aber Tatsache ist, dass er sie nicht immer unter Kontrolle haben kann. „Als Vorkämpfer des Gefühls, als Konstitutionskriterium für das bürgerliche Individuum nimmt Rousseau in dieser Aufklärung eine eigentümliche Stellung ein, die aber nicht auf die von ihm selbst projizierte Außenseiterrolle reduziert werden darf." 400 Den Menschen sollte vor Augen geführt werden, so Rousseau, dass Gefühle im menschlichen Umgang eine erhebliche Rolle spielen und somit thematisiert werden müssen. „Was für ihn [Rousseau] feststeht, was er mit aller Kraft des Denkens und des Gefühls ergreift, ist nicht das Ziel, dem er zusteuert, sondern der Impuls, dem er folgt.“ 401 Es wäre falsch, Rousseau nur als „Aufklärer“ zu betrachten, denn dies ist zu einseitig. „Er gehört auch zur Aufklärung – darauf deutet das Wort vom » irregeleiteten Menschen « hin – aber die Vernunft steht nicht im Zentrum seines Denkens und Handelns.“ 402 Dies lässt sich an seinem Verhalten gegenüber den Enzyklopädisten erklären, denn er distanziert sich von ihnen. „Dass er sich vor jener Verherrlichung der »Vernunft « , wie sie im Kreise der französischen Enzyklopädisten galt, abgewandt hat –, dass er sich ihr gegenüber auf die tieferen Kräfte des »Gefühls « und des »Gewissens « beruft, ist unverkennbar.“ 403 Auch die Diskussion mit Voltaire und anderen damaligen Denkern in der Runde fällt ihm schwer, da er im Gegensatz zu seinen Zeitgenossen kein „analytischer Denker“ war. „Rousseau ist von seiner Veranlagung her Gefühlsmensch und in seiner Programmatik mehr Gefühlsphilosoph als Aufklärer“ 404
Neben der Aufklärung als Einflussfaktor spielt auch Rousseaus Philosophie sowie seine religiöse Überzeugung eine entscheidende Rolle in Bezug auf seine Entwicklungstheorie. Dies zeigt sich insbesondere im vierten Buch seines „Emil“ im Glaubensbekenntnis des savoyischen Vikars. Der folgende Teil wird dies genauer beschreiben.
3.4 Religion und Philosophie
Rousseaus religiöse Ideen stehen in einem engen Zusammenhang zu seiner Philosophie. Beide bedingen sich gegenseitig und sind nicht voneinander trennbar, denn in dem Verhältnis zu Gott besteht die Grundlage jeder moralischen Bildung. 405 Rousseau vertritt die Meinung, dass die menschlichen Fähigkeiten unter einer Beschränkung leiden, wenn es um Dinge geht, die wir nicht mit unseren Sinnen wahrnehmen können. Deshalb haben die Menschen kaum einen Zugang zu „(...) den abstrakten Begriffen der Philosophie und den rein geistigen Ideen.“ 406 Um dahin zu gelangen, müssen sich die Menschen entweder von ihren Körpern, an die sie fest gebunden sind, distanzieren oder Schritt für Schritt vorgehen oder aber auch rapid die beiden Welten begreifen. Während Erwachsene, die sich die Abstraktion ausgesucht haben, nur mit viel Mühe dorthin gelangen, ist das Kind mit Sicherheit nicht dazu fähig, abstrakt zu denken. „Die erste abstrakte Idee ist die erste dieser Stufen; aber es fällt mir schwer, wie man sie bauen könnte.“ 407 Die menschlichen Sinne können das Unsichtbare nicht aufnehmen, denn es ist für uns unbegreiflich. Die Welt ist zwar da, kann gesehen werden, aber der Schöpfer dieser Welt ist unsichtbar. Seine Existenz kann nicht als Banalität betrachtet werden, denn „Es ist keine Kleinigkeit, endlich zu erkennen, dass er existiert. Sind wir aber dahingekommen, dann fragen wir uns: Wie ist er? Wo ist er? und unser Geist verwirrt und verirrt sich, und wir wissen nicht, was wir denken sollen.“ 408 Es ist nicht nur die Frage nach der Existenz des Schöpfers, die unser Fassungsvermögen übersteigt, sondern auch solche abstrakten Begriffe wie „Geist“.
3.4.1 Bildung von Geist und Körper
Die Tatsache, dass man zuerst mit dem Studium des Geistes anfängt - wie Locke empfiehlt, und dann das des Körpers, hält Rousseau für eine „Methode des Aberglaubens, der Vorurteile und des Irrtums.“ 409 Dieses Vorgehen Lockes kann weder als vernünftig noch natürlich strukturiert bezeichnet werden, so Rousseau, denn man kann nicht mit verbundenen Augen das Sehen lernen. Es erfordert eine intensive Beherrschung des Körpers, bevor man sich eine tatsächliche Idee vom Geist vorstellen sowie seine Existenz absolut bewusst spüren kann. Andersrum kann die Methode nur „Materialismus“ hervorrufen. Weil der Mensch seine primäre Erkenntnis durch die Sinne gewinnt, so können wir uns zuerst nur unseren Körper und Dinge vorstellen. „Das Wort Geist hat keinen Sinn für den, der nicht darüber nachgedacht hat.“ 410 Sowohl die Kinder als auch das Volk können keinen Unterschied zwischen „Geist und Körper“ feststellen. Es wird davon ausgegangen, dass Geister den Menschen ähneln, d.h. sie haben nicht nur einen Körper, sondern sie können auch sprechen. Dies führt zum Resultat, dass „(...) alle Völker der Welt, die Juden nicht ausgenommen, körperliche Götter geschaffen“ 411 haben. Die Menschen sind wegen der Verwendung von bestimmten Ausdrücken wie „’Geist, Dreieinigkeit, Personen’ zum größten Teil wahre Anthropomorphisten.“ 412 , d.h. sie haben die Tendenz, die Divinität im Bild eines Menschen aufzubewahren und Dingen bzw. Gegenständen menschliche Handlungen zuzuschreiben. Es wird uns beigebracht, dass Gott überall sei und uns ist auch bewusst, dass die Luft überall ist. Sollte man überhaupt die Wurzel dieses Wortes „Geist“ bzw. „esprit“ zurückverfolgen, so stellt man fest, dass das Wort lediglich „Hauch und Wind“ bedeutet. Menschen sind leicht manipulierbar, sobald sie Begriffe verwenden, wovon sie keine Ahnung haben und lassen sich natürlich dementsprechend alles sagen. Die Tatsache, dass wir Menschen das Bewusstsein besitzen, um festzustellen, dass „andere Körper“ auf uns einwirken, lässt uns von Beginn an im Glauben, dass auch „andere Körper“ die gleiche Einwirkung auf uns haben. Die Art dieser Wahrnehmung motivierte den Menschen dazu, allem, das auf ihn Einwirkung hat, Leben zu geben. Dies ist in erster Linie so, weil sich der Mensch im Gegensatz zu diesen multiplen Wesen, schwach fühlt. „Weil die Menschen in den ersten Zeiten vor allem erschreckt sind, haben sie überhaupt nichts Totes in der Natur gesehen.“ 413 Trotz allem fand die Bildung der Begriffe „Materie“ sowie „Geist“ bei dem Menschen langsam statt, denn diese primären Gedanken sind bereits eine Abstraktion. Alles, was sichtbar ist, erhält ohne Vorbehalt eine Seele und ihm wird Leben übertragen. „Der Polytheismus war ihre erste Religion, ihr erster Kult der Götzendienst.“ 414 Die Vorstellung eines Gottes ist solange noch nicht möglich, bis sie ihre Auffassungen peu à peu generalisieren und zu der Erkenntnis gelangen, dass sie „(...) das ganze System der Wesen unter einen einzigen Begriff (...)“ 415 bringen. Dies bedeutet, dass stark abstrahiert werden muss, wenn man dem Wort „Substanz“, der Grundlage des Seins, einen Sinn geben möchte.
3.4.2 Die Grundlage des Seins
Der Substanz als „Seinsgrundlage“ ordnet Rousseau die untrennbaren aber sich gegenseitig ausschließenden Eigenschaften „Denkvermögen“ und „Ausdehnung“ zu. Demnach verliert ein Wesen die Substanz, wenn es eine diese Eigenschaften verliert. „Folglich ist der Tod nur eine Trennung der Substanzen, und die Wesen, in denen diese beiden Substanzen verbunden sind, sind aus zwei Substanzen zusammengesetzt, denen diese beiden Eigenschaften angehören.“ 416 Dies entspricht der Auseinandersetzung mit cartesianischem Erbe. 417 Dass Rousseau zwei Substanzen postuliert, ist als kritische Reaktion auf die empirisch- materialistische Naturauffassung seiner Zeit zu sehen. 418
3.4.3 Möglichkeit des religiösen Verstehens
Allein die Beziehung zwischen den Substanzen bzw. die Einwirkung der Seele auf den Körper ist für den menschlichen Verstand kaum nachvollziehbar. Umso schwieriger ist es, sich die „Einwirkung“ Gottes auf alle Wesen vorzustellen. Weil wir Erwachsenen bereits Schwierigkeiten mit „göttlichen Begriffen“ wie z.B. „Schöpfung, Vernichtung, Allgegenwart, Ewigkeit, Allmacht“ 419 haben, ist es sicherlich für das Kind unmöglich, etwas mit diesen Begriffen anzufangen. Alle Bemühungen diesbezüglich werden nur seinen Geist verwirren, sodass es nichts mehr verstehen wird. Deshalb wusste Rousseaus Schüler auch mit 15 Jahren noch nichts über die Religion. 420 Dies lässt sich offensichtlich auf Rousseaus calvinistisch geprägte Kindheit in Genf zurückführen, denn „(...) Jean – Jacques, prématurément aigri, emporte aussi avec lui une rancœur, plus ou moins consciente, contre la cité malhabile et dure, qui a tyrannisé et meurtri sa première jeunesse (…).“ 421
3.4.4 Religionsunterricht für Kinder
Auch die Einführung von Kindern in den Unterricht des Katechismus bringt gar nichts und schadet sogar dem Kind. Ein Beispiel dafür wäre, wenn man das Kind dazu zwingen würde zu erklären, was es aus dem Katechismus rezitiert. „Man wird mir entgegnen, dass die meisten christlichen Dogmen Geheimnisse sind, und darauf zu warten, bis der menschliche Geist dazu fähig ist, sie zu begreifen, heißt nicht, darauf warten, bis das Kind ein Mann ist, sondern bis zu seinem Tod.“ 422 Dies sollte als Hinweis dazu dienen, dass Dinge existieren, die nicht nur unverständlich sind, sondern die einem auch unglaubwürdig erscheinen. Wenn man die Kinder den Katechismus unterrichtet, führt es nur dazu, dass die Kinder frühzeitig zum Lügner werden, denn „(...) um Geheimnisse anzuerkennen, muss man wenigstens begreifen, dass sie unbegreiflich sind.“ 423 Selbst dies sprengt bereits die kindliche Dimension. Wenn Kinder ein bestimmtes Alter erreichen, „(...) in dem alles ein Geheimnis ist, gibt es keine Geheimnisse im eigentlichen Sinn des Wortes.“ 424 Man sollte die Kinder auf keinen Fall daran gewöhnen, sich mit Worten abspeisen zu lassen, denn dies ist „(...) das Prinzip aller blutigen Unduldsamkeit und die Ursache aller eitlen Lehren, die der menschlichen Vernunft den Todesstoß versetzt (...).“ 425 Dies kann geschehen, wenn man dem Kind z.B. beibringt: „Man muss an Gott glauben, um erlöst zu werden.“ 426 Selbstverständlich sollte der Mensch keine Zeit vergeuden, die ewige Seligkeit zu verdienen, wenn es ausreichen würde, dies durch Nachsprechen bestimmter Wörter zu erreichen. Aber es ist nicht verständlich, den Kindern mysteriöse Dinge beizubringen, von denen sie noch keine Dimension haben. „Der Philosoph, der nicht glaubt, hat unrecht, weil er die Vernunft, die er kultiviert hat, schlecht verwendet und weil er imstande ist, die Wahrheit zu begreifen, die er verwirft.“ 427 Das Kind, das sich zur christlichen Religion bekennt, glaubt, was es begreift und der Grad dieses Begreifens ist so niedrig, dass es genauso das Gegenteil glauben wird. Das Kind, das z.B. beigebracht bekommt, Mohammed sei ein Prophet, wird das gleiche wiederholen und das andere Kind, das belehrt wird, dass Mohammed ein Betrüger ist, wird es auch glauben und natürlich nachsprechen. Es wird demnach verständlich, dass man nicht davon ausgehen kann, dass eins von den zwei Kindern aufgrund seines Glaubens ins Paradies bzw. in die Hölle geschickt werden kann. Wenn ein Kind an Gott glaubt, so glaubt es nicht an Gott, sondern an Peter und Jakob, die ihm sagen, es gäbe etwas, das man Gott nennt.“ 428
3.4.5 Weiterleben der Seele
Man geht davon aus, dass die Seele eines Kindes, das vor dem Vernunftalter stirbt, ewig im Paradies leben wird. Im Katholizismus werden Kinder sogar so frühzeitig getauft, bevor sie überhaupt etwas von Gott erfahren. „Es gibt also Fälle, wo man erlöst werden kann, ohne an Gott zu glauben, wie etwa in der Kindheit oder im Wahnsinn, wo der menschliche Geist unfähig ist, durch Denkakte die Göttlichkeit zu erkennen.“ 429 Man kann sich die Frage stellen, ob ein Kind bereits mit sieben Jahren dazu fähig ist, durch einen bewussten Denkprozess diese zu erkennen und zu verstehen. Rousseaus Denken ist diesbezüglich sehr kritisch, denn er behauptet, dass ein Kind nicht einmal mit fünfzehn Jahren die Fähigkeit besitzt, durch Denkprozesse die Göttlichkeit zu erkennen. Rousseau hat wahrscheinlich in dieser Hinsicht recht, denn es handelt sich bei ihm lediglich um „eine einfache naturgeschichtliche Beobachtung.“ 430 Es ist verständlich, dass ein Mensch, der das „Greisenalter“ erreicht und trotzdem der Existenz Gottes nicht bewusst ist, dem ewigen Leben nicht beraubt sein wird, wenn er diesen „Irrtum“ seines Geistes nicht selbst zu verantworten hat. Rousseau behauptet, dass dies nicht immer der Fall ist. Auch geistesgestörte Menschen verlieren durch die Krankheit lediglich ihre Geisteskraft, aber nicht ihre menschliche Eigenschaft. Außerdem verlieren sie auch nicht ihre Rechte „auf die Wohltaten ihres Schöpfers.“ 431
Rousseau weiß, dass nur die Aufklärung in Bezug auf eine solche Thematik einen besseren Weg zum Verständnis ermöglicht und fragt: „Warum wollt ihr es mir nicht für diejenigen zuerkennen, die von ihrer Kindheit an aus jeder Gesellschaft ausgeschlossen waren, ein völlig wildes Leben geführt hatten und der Aufklärung beraubt waren, zu der man nur im Umgang mit Menschen gelangt?“ 432 Der Mensch ist nicht dazu fähig, aus eigener Kraft zur Erkenntnis des wahren Gottes zu gelangen. Sollte man sich der Vernunft bedienen, so weiß man, dass man nur aufgrund „willentlicher Fehler“ bestraft werden darf. Aber eine unbesiegbare Unwissenheit des Menschen darf ihm niemals als ein Verbrechen angerechnet werden. Folglich muss betont werden, dass „(...) vor der ewigen Gerechtigkeit jeder Mensch als gläubig gilt, der glauben würde, wenn er die nötigen Einsichten hätte, und dass nur diejenigen als Ungläubige bestraft werden, deren Herz sich der Gottheit verschließt.“ 433 Deshalb sollte die Wahrheit – wenn überhaupt – nur nach reiflicher Überlegung postuliert werden, um der Disharmonie in der Welt vorzubeugen. „Hüten wir uns also, jenen die Wahrheit zu verkünden, die nicht imstande sind, sie zu verstehen, denn das hieße, den Irrtum an ihre Stelle setzen.“ 434 Es ist besser mit dem Begriff „Gottheit“ nichts anfangen zu können, als einen Begriff untersten Niveaus mit phantastischer, beleidigender und unwürdiger Vorstellung der Gottheit zu haben, denn „(...) die Verkennung ist ein kleineres Übel als die Lästerung.“ 435
3.4.6 Spätere Einführung in die Religion
Eine falsche Vorstellung der Gottheit bei Kindern ist zugleich als ein falscher Grundstein, den man in ihnen falsch legt, zu betrachten. Denn sie setzt sich fest und auch als Erwachsene sind diese Kinder in den meisten Fällen nicht mehr in der Lage, die Vorstellung zu korrigieren, die sich in der Kindheit eingeprägt hat. „Ich habe in der Schweiz eine gute und fromme Mutter gekannt, die von dieser Meinung so überzeugt war, dass sie ihren Sohn in der Kindheit nicht in der Religion unterrichten wollte, weil sie fürchtete, er könnte sich mit diesen groben Vorstellungen begnügen und im Alter der Vernunft eine bessere außer acht lassen.“ 436 Das Kind hat gemischte Gefühle, wenn man über Gott redet. Es weiß Bescheid, dass ein Gott existiert, und „(...) sobald es aber selbst von ihm reden wollte, legte man ihm Stillschweigen auf wie über einen Gegenstand, der für das Kind zu erhaben und zu groß sei.“ 437 Gerade dieses Verhalten weckt bei ihm Neugier. Es wartet außerdem für sein Selbstgefühl darauf, den richtigen Zeitpunkt zu erwischen, damit es das Geheimnis, das man ihm sorgfältig verheimlicht, kennen lernen kann. Während man versucht wenig und vorsichtig mit ihm über Gott zu sprechen, setzt es sich sogar intensiver mit der Thematik auseinander. „Dieses Kind sah Gott überall.“ 438 Aus diesem Beispiel sollte die Lehre gezogen werden, dass man nicht übertreiben darf, wenn man religiöse Themen mit den Kindern behandelt, denn dies könnte leicht dazu führen, dass Kinder anstatt Gläubige eher Fanatiker einer Religion oder auch einer Glaubengemeinschaft werden. Bei Emil hingegen braucht man nichts zu befürchten, „(...) denn er beachtet nichts, was seine Fassungskraft übersteigt. Mit der größten Gleichgültigkeit hört er den Dingen zu, die er nicht versteht.“ 439 Emil ist daran gewohnt zu sagen, dass etwas nicht für ihn ist. Sollte er sich wegen der großen Fragen beunruhigen, so liegt es nicht daran, dass er davon erfahren hat, sondern nur „(...) weil seine fortschreitenden Einsichten sein Suchen in diese Richtung lenken.“ 440 Man kann feststellen, welcher Weg geeignet sei, um den menschlichen Geist einer Bildung dieses religiösen Geheimnisses zu nähren. „Ich gebe gern zu, dass er, selbst bei einem Leben in der Gesellschaft, auf natürliche Weise nur in vorgeschrittenem Alter dahin gelangt (...).“ 441 Weil es aber in dieser gleichen Gesellschaft Gründe gibt, die nicht zu vermeiden sind und durch diese Gründe, „(...) die Entwicklung der Leidenschaft beschleunigt wird, so würde man in Wahrheit die natürliche Ordnung verlassen und damit das Gleichgewicht verletzen, wenn man nicht ebenso den Fortschritt der Einsichten beschleunigte, die zur Steuerung dieser Leidenschaft dienen.“ 442 Sollte man eine rapide Entwicklung nicht stoppen können, so muss man sie in gleichen Maß mit entsprechenden Mittel beschleunigen, damit der Mensch, der eine Einheit ist, auch eine Einheit bleibt und dafür sorgen, dass er diese Einheit niemals verliert. Er soll ein Ganzes bleiben, jemand, der „(...) nicht mit einer seiner Fähigkeiten auf einem anderen Punkt der Entwicklung steht als mit den anderen.“ 443
Ein Kind wird bereits in der Religion seines Vaters aufwachsen und man vermittelt ihm, dass diese Glaubensrichtung die einzig wahre Religion sei, dass alle anderen Religionen als überspannt und lächerlich zu betrachten seien. Als Beleg für die Intensität dieser einzigen Religion dient das Land, in dem sie erfolgreich vertreten wird. „Ein Türke, der in Konstantinopel das Christentum lächerlich findet, möge doch sehen, wie man in Paris über den Mohammedanismus urteilt!“ 444 Der Einfluss der Religion lässt sich besonders daran erkennen, dass die öffentliche Auffassung auf diesem Gebiet massiv siegt.
3.4.7 Glaubensbekenntnis des savoyischen Vikars
Eine zentrale Stelle in Rousseaus Werk „Emil“ nimmt das Glaubensbekenntnis des savoyischen Vikars ein. Die Tatsache, dass es ausgerechnet im vierten Buch zu finden ist, lässt sich damit begründen, dass nach Rousseau vor dem Jugendalter bzw. der Pubertät kein rationales Denken möglich ist. Cassirer behauptet in Bezug auf Rousseau selbst sogar folgendes: „Rousseaus selbständige geistige Entwicklung setzt erst in dem Moment ein, in dem er als fast Dreißigjähriger in Paris eintrifft.“ 445 Das Kind braucht noch keine Religion, es ist glücklich, autark und seelisch konfliktlos. Die Notwendigkeit der Religion tritt erst im Zusammenhang mit der Schwäche des Menschen auf. Nach Rousseau bildet sich das Gewissen aus der Liebe zum Guten und dem Glauben an Gott, weil es als Kraft gesehen wird, die dem Menschen in seiner moralischen Schwäche und dem Widerstreit zwischen Gut und Böse hilft. Deshalb ist es auch das Ziel von Emils religiöser Erziehung, Freiheit und Unabhängigkeit von Verführungen zu erlangen, zu denen u.a. das Sozialprestige und die eigene Sinnlichkeit gerechnet werden können. Ein Kind hingegen hat es noch nicht nötig, gelehrt zu werden 446 und die tiefe Betrachtung der Dinge liegt ihm nicht nur fern, sondern sie gehört nicht zu seiner Natur. Dem Kind soll geholfen werden, ein gesundes Urteil zu entwickeln und die Wahrheit zu lieben.
3.4.7. 1 Das Gewissen als Folge der natürlichen Ordnung
Als Kind fehlt einem sicherlich die Dimension von „gut“ und „Nutzen“. Man tut einfach, was von einem verlangt wird. Man stellt aber bald fest, dass man seine Versprechungen nicht mehr halten kann. Es wird aber gesagt, dass das Gewissen Vorurteile beim Menschen schafft. Es kann aus Rousseaus Erfahrungen bewiesen werden, dass das Gewissen im Gegensatz zu anderen menschlichen Gesetzen, der natürlichen Ordnung entspricht. „Ich weiß (...) aus eigener Erfahrung, dass es [das Gewissen] gegen alle menschlichen Gesetze hartnäckig der Ordnung der Natur folgt.“ 447
Es kann den Menschen dies und jenes verboten werden und die Gewissensnot macht Menschen dementsprechend handlungsunfähig. Kinder sollten froh sein, solange sie sich noch nicht in dieser Lage befinden, denn die Gewissensnot hat noch keinen Einfluss auf ihre Sinne genommen. So sagt Rousseau: „Mein lieber junger Mann! Noch hat sie nicht zu deinen Sinnen gesprochen! Bleib noch lange in diesem glücklichen Zustand, in dem ihre Stimme die Stimme der Unschuld ist.“ 448 Es soll bedacht werden, dass man noch mehr Fehler begehen kann, wenn man dieser Gewissensnot vorgreift, als wenn man sie bekämpft. Es sollte erst gelernt werden zu widerstehen, um zu wissen, wann schuldlos nachgegeben werden kann. 449 Trotz der Schule und Studien konnte Rousseau die ursprüngliche Klarheit seines Geistes bewahren. Auch durch die Maxime sowie äußere Einflüsse konnte sie nicht getrübt werden. Das Armutsverhältnis bewahrte ihn vor vielen Gefahren und Lastern, u.a. davor, sich an vielen anderen zu orientieren. 450 Dies war leider keine gute Entscheidung, denn er litt darunter als „Opfer seiner Gewissenhaftigkeit.“ „Aus den Vorwürfen, mit denen man mich neben der Ungnade überhäufte, erkannte ich, dass man das Vergehen oft nur zu vergrößern braucht, um der Strafe zu entgehen.“ 451 Es ist leicht, einen Geist aufgrund von Erlebnissen nachdenklich zu machen. Überzeugungen können schnell in Frage gestellt werden, wenn man in der Realität beobachten kann, wie die Werte, die man für menschlich wertvoll und richtig hält, nur von einem selbst praktiziert werden, während die anderen sich nicht daran orientieren und sie sogar noch missachten. Der Mensch verliert allmählich den Glauben an seine „alten Überzeugungen“ und der Rest, den er behält, kann sich nicht als ein Ganzes bilden, denn er muss sich an sich selbst stützen können. „Was Rousseau immer wieder zu den ersten Eindrücken seiner schweizerischen Heimat zurückkehren ließ, das war das Gefühl, dass er dort, und dort allein, das Leben noch als wahrhafte Einheit, als ungebrochene Ganzheit besessen habe.“ 452 Besitzt der Mensch diese Ganzheit nicht, entsteht nichts anderes als die reine Verwirrung und er weiß nicht mehr weiter. Rousseau selbst unterscheidet sich diesbezüglich dadurch, dass sein „(...) Unglaube als spätentwickelte Frucht eines reifen Alters sich mühsamer gebildet hatte und schwieriger zu überwinden sein musste.“ 453
3.4.7.2 Der Mensch im Zustand des Zweifelns
Der Mensch befindet sich in einem Zustand des Zweifels und der Ungewissheit und muss sich auf die Suche nach der Wahrheit begeben. Rousseaus Verwirrung war deshalb massiv, da er in einem calvinistisch geprägtem Land geboren ist und diese kirchliche Richtung für einen entscheidet und keinen Zweifel duldet. Sollte man diesbezüglich einen Punkt nicht respektieren, so hat man automatisch den Rest missachtet. Weil es für ihn unmöglich war, alle Entschlüsse kritiklos hinzunehmen, distanzierte er sich auch von den Menschen, die nicht dieser Glaubensrichtung angehörten. Es wird dort postuliert, dass man an alles glauben muss. Dies machte Rousseau skeptisch und so wird er gehindert, überhaupt an etwas zu glauben, da er nicht weiß, woran er sich festhalten sollte. Er beschäftigt sich verzweifelt mit philosophischen Büchern in der Hoffnung, Ratschläge zu finden. Dabei achtet er besonders auf unterschiedliche Meinungen von Denkern und prüfte sie. „Ich fand sie alle stolz, rechthaberisch, dogmatisch, selbst in ihrem vorgeblichen Skeptizismus.“ 454 Rousseau gewinnt den Eindruck, dass alle Philosophen zwar behaupten, alles zu wissen, aber nicht in der Lage sind, es zu belegen und sie ziehen sogar gegenseitige Aussagen von Kollegen ins Lächerliche. Alle diese Philosophen beweisen doch eine Affinität hinsichtlich dieses letzten Punktes. Es gibt eine Übereinstimmung zwischen ihnen. Sie sind schnell beim Angreifen, doch in ihrer Verteidigung sind sie kraftlos, und sollte man ihre Argumente prüfen, so sind sie nur zerstörerisch. Sollte die Zuordnung nach Wegen geordnet werden, würde jeder seinen gehen. 455 Da sie sich nur streiten können, ist das Zuhören bei diesem Streit sicherlich nicht der beste Weg, damit man aus seiner Unsicherheit herauskommt und die Wahrheit findet.
3.4.7.3 Prozess der Wahrheitsfindung
Rousseau beginnt mit dem Weg der Wahrheitsfindung, indem er von der Wahrscheinlichkeit ausgeht und zu dem Schluss kommt, dass das wahr ist, was seine innere Zustimmung findet. 456 Dabei fungiert die Person als urteilende Kraft, denn sie kann aufgrund ihrer Sinne wahrnehmen und auch vergleichen. „Wahrnehmen heißt empfinden; vergleichen heißt urteilen.“ 457 Die Kapazität, über die Dinge zu urteilen und sie zu beurteilen, lässt sich nicht im Geist, sondern nur in den Dingen selbst finden, denn in den Dingen ist die Wahrheit. Je weniger man unvoreingenommen mit den Dingen umgeht, desto näher rückt man an die Wahrheit heran. „Also wird meine Regel, mich mehr den Empfindungen als der Vernunft zu überlassen, durch meine Vernunft selbst bestätigt.“ 458 Rousseau unterscheidet das „Ich“ - die urteilende Person, die „Materie“ – alles, was außerhalb des „Ichs“ ist und die „Körper“ – die alles, was er in Einzelwesen erkennt, ausmachen. 459 Diesen Körpern schließlich schreibt er entweder eine übertragene oder eine eigene Bewegung zu. Da der Naturzustand seines Erachtens Ruhe bedeutet, kommt er somit zu der einfachen Erkenntnis, dass die Welt und das Universum keine eigene Bewegung haben, sondern es eine Kraft gibt, die sie antreiben. 460 Aus diesen Gedanken leitet Rousseau drei Glaubensartikel ab, die sich wie folgt zusammenfassen lassen:
1. Ein Wille bewegt das Weltall bzw. die Natur.
2. Es gibt Verstand, da sich die Materie nach bestimmten Gesetzen bewegt.
3. Der Mensch ist frei. 461
Alle anderen Artikel lassen sich aus diesen dreien ableiten. Der Zweck der „Einzelteile“ bleibt vielleicht manchmal unklar, doch sieht man seiner Auffassung nach, dass alles zusammengehört und eine harmonische Einheit bildet. Auf diese Art und Weise beweist Rousseau, dass es Gott gibt. „Dieses Wesen, das will und kann, dieses aus sich selbst aktive Wesen (...) nenne ich Gott.“ 462 Gott bedeutet für ihn Verstand, Macht, Willen und Güte. Seiner Vorstellung nach ist er intelligent, gut, gerecht und ewig sowie omnipräsent und omnipotent, „(...) sobald ich ihn aber in ihm selbst betrachten will, sobald ich suchen will, wo er ist, worin sein Wesen besteht, entschlüpft er mir, und mein verwirrter Geist erkennt nichts mehr.“ 463 Deshalb ist es weiser, sich mit Dingen zu beschäftigen, worüber man mit Gewissheit Bescheid weiß, „(...) denn es ist für die Gottheit weniger beleidigend, gar nicht an sie zu denken, als falsch über sie zu denken.“ 464 Zwar bringt ihn die Idee der Schöpfung durcheinander und er kann es nicht verstehen, aber er weiß, „(...) dass Gott die Welt und alles, was existiert geformt hat, dass er alles gemacht und geordnet hat.“ 465 Und all dies ist für den Menschen gemacht, der frei ist, das Gute oder Böse zu tun. „Wer murrt darüber, dass Gott uns nicht hindert, das Böse zu tun, murrt darüber, dass er unsere Natur mit solchen Vorzügen ausgestattet hat, dass er seinen Handlungen die Moralität verlieh, die sie veredelt, und dass er ihm das Recht auf Tugend gab.“ 466 Mit sich selbst zufrieden zu sein, sieht Rousseau als das höchste Glück der Menschheit.
Die Erlösung des Menschen darf man nicht durch die Hilfe von außen erhoffen, denn der Mensch selbst ist für sein Handeln verantwortlich. „Kein Gott kann sie [die Erlösung] uns bringen; sondern der Mensch muss zu seinem eigenen Retter und im ethischen Sinne zu seinem Schöpfer werden.“ 467 D. h. der Mensch muss dazu fähig sein, richtige von falschen Handlungen zu differenzieren. „Der Mensch muss erst in sich selbst das klare und feste Gesetz gefunden haben, ehe er nach den Gesetzen der Welt, der äußeren Gegenstände, fragt und forscht.“ 468
Menschen sind auf der Erde mit Freiheit beschenkt, von Leidenschaften in Versuchung geführt und vom Gewissen zurückgehalten, damit sie diese Zufriedenheit erwerben. „Das Bild der Natur zeigt mir nur Harmonie und Ebenmaß, das des menschlichen Geschlechts bietet mir nur Verwirrung und Unordnung! Unter den Elementen herrscht Harmonie, die Menschen befinden sich im Chaos!“ 469 Eine seltsame Art die Welt zu regieren. Aus der Macht des Menschen ist nur Übel auf der Erde zu sehen. Aus diesen Erwägungen und scheinbaren Kontradiktionen bildet sich bei Rousseau jegliche Vorstellung von der Seele.
Er denkt über die Natur des Menschen nach und kommt zu zwei Grundresultaten bzw. zwei unterschiedlichen Prinzipien, die er behauptet zu entdecken. „Das eine erhob ihn zur Erforschung der ewigen Wahrheiten, zur Liebe der Gerechtigkeit und des moralisch schönen in die Regionen der intellektuellen Welt, deren Betrachtung das Entzücken des Weisen ausmacht; das andere zog ihn zu sich herab, unterwarf ihn der Herrschaft der Sinne, den Leidenschaften, die ihre Diener sind, und trat so in Gegensatz zu allem, was ihm das Gefühl des ersten einflößte.“ 470 Es kommen Momente, wo sich der Mensch von den beiden Gegenströmungen mitgerissen und umkämpft fühlt. Rousseaus Geist wird diesbezüglich ein bisschen labil, sein Denken wird ambivalent und er sagt: „Nein, der Mensch ist keine Einheit: ich will und will nicht, ich fühle mich Sklave und frei, ich sehe das Gute, ich liebe es und ich mache das Böse; ich bin aktiv, wenn ich auf die Vernunft höre, passiv, wenn mich meine Leidenschaften fortreißen; und wenn ich ihrer unterlegen bin, so ist das Gefühl, dass ich widerstehen hätte können, meine größte Qual.“ 471 Der Mensch ist gut und glücklich, solange er seine Kräfte nicht missbraucht. Er ist durch sich selbst tätig, wozu ein materielles Wesen nicht fähig ist. Der Mensch besitzt einen Körper, auf den die anderen ebenso einwirken, wie der Mensch selbst auf sie. Die daraus resultierende Interaktion ist außer Frage zu stellen, aber der Wille hängt nicht von den Sinnen ab. Der Mensch selbst fühlt ganz deutlich in sich, ob er getan hat, was er tun wollte, oder aber nur seinen Leidenschaften nachgegangen ist. „(...) das empfindende Wesen ist unteilbar und eins. Es lässt sich nicht teilen; es ist entweder ganz oder gar nicht.“ 472 Das Wesen Mensch verfügt zwar über die Möglichkeit und Macht immer zu wollen, aber es hat nicht permanent die Kraft, dies tatsächlich in die Tat umzusetzen. „Wenn ich mir diese Schwäche vorwerfe, höre ich nur auf meinen Willen. Ich bin Sklave durch meine Laster, aber frei durch mein Gewissen. Das Gefühl meiner Freiheit erlischt in mir nur, wenn ich verlottere und wenn ich die innere Stimme hindere, sich gegen das Gesetz des Körpers zu erheben.“ 473 Der Wille eines Menschen lässt sich nur durch das Gefühl seines Willens erklären, wobei man über den Verstand auch nicht besser Bescheid weiß. Daraus resultiert, dass sowohl der Verstand als auch der Wille lediglich eine Ursache haben. „Und wenn man recht begreift, dass der Mensch in seinen Urteilen aktiv ist und dass sein Verstand nur das Vermögen ist, zu vergleichen und zu urteilen, wird man verstehen, dass seine Freiheit nur ähnliches oder von jenem abgeleitetes Vermögen ist.“ 474 Der Mensch entscheidet sich für das Gute in Abhängigkeit von seiner Beurteilung des Wahren. Was jedoch ist die Ursache, die seinen Willen bestimmt? Es ist seine Urteilskraft, die sich wiederum in Abhängigkeit von seinem Erkenntnisvermögen und seiner Fähigkeit zu urteilen erklären lässt. „(...) die bestimmende Ursache liegt in ihm selbst. Darüber hinaus begreife ich nichts mehr.“ 475 Der Mensch ist weder frei sein Glück noch sein Unglück zu wollen. Die Freiheit eines Menschen besteht jedoch darin, dass er lediglich das wollen kann, was ihm angemessen ist oder aber was er ohne äußere fremde Einflüsse dafür hält. „Wenn das Glück in der Erreichung aller selbstgewählten Zwecke besteht, dann kommt alles darauf an, sich nur solche Zwecke zu setzen, von denen man sicher sein kann, dass man sie auch erreichen kann, d.h. man muss darauf achten, dass das Wollen mit dem Können übereinstimmt.“ 476 Der Kern jeder Handlung ist im Willen eines freien Wesen zu finden. Überhaupt liegt der Kern Rousseaus religiöser Grundauffassung laut Cassirer im Freiheitsproblem. 477 Für freie Entscheidungen benötigt der Mensch aber das Gewissen, das Rousseaus Meinung nach nie täuscht und die Stimme der Seele ist, während die Leidenschaften die Stimme des Körpers sind. 478 Das Gewissen definiert er wie folgt: „Im Grunde der Seele gibt es ein angeborenes Prinzip der Gerechtigkeit und Tugend, nach dem wir, gegen unsere eigenen Grundsätze, unsere und die Handlungen anderer als gut und böse beurteilen; und dieses Prinzip nenne ich Gewissen.“ 479 Aus diesen Darlegungen ergibt sich bei Rousseau das Verständnis für eine natürliche Religion, denn er findet „(...) in den Dogmen der natürlichen Religion nur die Elemente aller Religionen.“ 480 Infolgedessen sind für Rousseau entweder „(...) alle Religionen gut und Gott wohlgefällig, oder er hat (...) sichere und deutliche Zeichen gegeben, an denen sie von anderen unterschieden und als einzig wahre Religion erkannt werden kann.“ 481 Diese Zeichen sind aber in allen Religionen erkennbar. Und wenn es tatsächlich nur eine einzig wahre Religion gäbe und alle anderen in die ewige Verdammnis führen würden, dann wäre dieser Gott ungerecht und grausam. 482 „Gott ist nicht der Gott der Toten; er könnte nicht zerstören und Böses tun, ohne sich selbst zu schaden. Wer alles vermag, kann nur wollen, was gut ist. Das allergütigste Wesen muss demnach, weil es allmächtig ist, auch von höchster Gerechtigkeit sein, weil es sich sonst widerspräche; denn die Liebe zur Ordnung, die sie bewahrt, heißt Gerechtigkeit.“ 483 Rousseau benutzt auch auf der Suche nach der Wahrheit sein Gewissen und seine Vernunft und kommt zu dem Schluss: „Der Gott, den ich verehre, ist kein Gott der Finsternis. Er hat mir nicht den Verstand gegeben, um mir seinen Gebrauch zu verbieten.“ 484 Auf die Frage nach der richtigen Religion gibt Rousseau im Namen des Vikars dem Proselyten den Rat, zu seinem Glauben zurückzukehren. „Kehr in dein Vaterland zurück, nimm deine Vaterreligion wieder an, bekenne dich aufrichtigen Herzens zu ihr und gib sie nie wieder auf. Sie ist sehr einfach und sehr heilig. Sie hat nach meiner Meinung von allen Religionen die reinste Moral und befriedigt am besten die Vernunft.“ 485 Dass mit dieser Religion der Calvinismus gemeint ist, geht aus der Rahmenerzählung hervor, in der berichtet wird, dass es sich bei dem Proselyten um einen gebürtigen Calvinisten handelt, der allerdings seine Religion gegen das tägliche Brot eingetauscht hatte. 486 Die Vorstellung, dass ein Kind in der Religion seines Vaters erzogen werden solle, äußert Rousseau auch bereits vor der Rahmenerzählung. 487 Dies bedeutet für Emil, dass er in keine bestimmte Religion eingeführt wird, sondern in die Lage versetzt wird, „(...) die zu wählen, zu der ihn der richtige Gebrauch seiner Vernunft führen muss.“ 488 Schließlich warnt der Vikar den Proselyten noch vor Philosophen, die seiner Meinung nach ihr Wissen missbrauchen und damit Ungläubigkeit erzeugen. 489 „Der Philosophie und insbesondere den Philosophen steht Rousseau sehr skeptisch bis ablehnend gegenüber.“ 490 Anerkennung finden bei Rousseau eigentlich nur Sokrates, Platon und Plutarch, die für ihn allerdings Weise und keine Philosophen sind. Über allem steht für ihn das Gewissen, denn es „(...) ist aufgeklärter als jeder Philosoph.“ 491
Rousseaus religiöse Auffassung zeigt sich deutlich im Kernstück des vierten Buches, dem Glaubensbekenntnis des savoyischen Vikars. In diesem Abschnitt „(...) stellt Rousseau grundlegende Beziehungen her zwischen erkenntnistheoretischen, metaphysischen und religionsphilosophischen Überlegungen, die an die zeitgenössische Auseinandersetzung von Rationalismus und Empirismus anknüpfen und die Grundlage bilden einer Ethik des Gewissens, (...).“ 492 Der Vikar könnte das Bild des zukünftigen Emil verkörpern, „(...) denn die Worte, in denen er sich und den Weg zu seinen Vernunftgründen charakterisiert, stehen in fast unmittelbarer Parallelität zu Émiles Entwicklung.“ 493 Diese Parallelität zeigt sich an verschiedenen Stellen des Bekenntnisses u.a. gleich am Anfang: „Mein Kind erwarte von mir weder gelehrte Reden noch tiefe Betrachtungen. Ich bin kein großer Philosoph und es liegt mir wenig daran, es zu sein. Doch manchmal habe ich ein gesundes Urteil und immer liebe ich die Wahrheit.“ 494 In diesem Sinne wurde Emil erzogen und so hätte er sich auch äußern können. 495 Das Glaubensbekenntnis darf jedoch nicht falsch verstanden werden, indem man es als Handbuch für die religiöse Erziehung betrachtet, sondern es ist lediglich ein Ausdruck von Rousseaus Religionsanschauung. „Ich habe diese Schrift nicht als Richtschnur, die für die Ansichten über Religion maßgebend sein soll, übertragen, sondern als ein Beispiel für die Art, wie man mit seinem Schüler den Gegenstand erörtern kann, ohne sich von der Methode, die ich aufzustellen versucht habe, zu entfernen.“ 496
Insgesamt gesehen betont Rousseau die Vernunftgemäßheit der Religion. Aus der rationalen Ordnung der Natur leitet er einen kosmologischen Gottesbeweis ab. Und vor allem wendet er sich gegen eine Offenbarungsreligion und deren Institutionalisierung. Rousseau will eine natürliche Religion. Gott ist ein Postulat der praktischen Vernunft. Und das Fortleben der Seele soll um der Gerechtigkeit willen erfolgen. Der Mensch ist – gegen das Erbsündendogma – von Natur aus gut. Dies entspricht der Aufklärung seiner Zeit. Auch dort ist Gott Postulat der praktischen Vernunft. Es herrschte eine deistisch gefärbte Religion, die sich in sittlichem Handeln zu erweisen hat. 497
Sowie sich Rousseau gegenüber der Religion skeptisch zeigt und der Philosophie und den Philosophen kein Vertrauen schenken kann, so ist auch die damalige Medizin – die heutige vielleicht auch – nach Rousseaus Auffassung so defizitär, dass er sich weder ihr noch den Ärzten anvertrauen mag.
3.5. Medizin
„Bei einer Analyse der Gedanken Rousseaus über die Medizin ist es wichtig zu wissen, dass er vor allem ein philosophierender Mensch ist, ein Aufklärer, der versucht, die Zustände seiner Zeit nach seinen durch die Vernunft gewonnenen Einsichten umzugestalten.“ 498 Rousseaus Auffassung bezüglich der Medizin ist größtenteils aus persönlicher Erfahrung entstanden, und kann wohl als Einflussfaktor auf seine Entwicklungstheorie betrachtet werden, denn „Rousseau selbst war sein ganzes Leben hindurch ein kränkelnder Mensch. Besonders empfindsam, manchmal sehr wehleidig, (...).“ 499 Er konsultiert aufgrund seines Gesundheitszustands zwischen 1732 und 1736 viele verschiedene Ärzte und stellt fest, dass der größte Teil von ihnen entweder nicht über ausreichende Kenntnisse seines Leidens verfügt oder keine klare präzise Diagnose stellen kann. „Der Arzt Morand gab seinem Leiden dagegen eine schlechte Prognose, während die biegsamen Harnröhrensonden Darans Hilfe und Erleichterung brachten. Neben den oben erwähnten Ärzten konsultierte Rousseau Helvetius, Malouin und Thierry, doch deren übliche Therapie – Tisanen, Bäder und Aderlass – verschlimmerte seine Leiden, und so beschloss er, nach Jahren voller Misserfolge ‚ohne Ärzte und Heilmittel zu genesen oder zu sterben’.“ 500 Rousseau selbst gibt zu, schon 30 Jahre lang ein Opfer der Medizin gewesen zu sein und schon 10 Jahre ohne Arzt gelebt zu haben und zieht daraus den Schluss, dass er in den 10 Jahren mehr vom Leben gehabt hat. 501 Er scheint dementsprechend kein positives Bild von der Medizin zu haben, wenn er postuliert: „Ich bestreite also nicht, dass die Medizin nicht einzelnen Menschen nützlich sei, aber ich sage, dass sie dem Menschengeschlecht verderblich ist.“ 502 Deshalb braucht Emil auch keinen Arzt. „Ich weiß nicht, von welcher Krankheit uns die Ärzte heilen, aber ich weiß, dass sie uns verderbliche vermitteln: Feigheit, Kleinmut, Leichtgläubigkeit und die Furcht vor dem Tod.“ 503 Rousseau ist skeptisch gegenüber der Heilkunst, obwohl sie ein gewisses Maß an Macht über die Menschen zu besitzen scheint, denn „(...) ein kraftloser Körper schwächt die Seele.“ 504 Aber den Menschen ist nicht geholfen, wenn Ärzte lediglich den Körper heilen und dabei den Menschen den Lebensmut nehmen. Rousseau bezeichnet diese Menschen als gehende Leichen. Aber es werden Menschen gebraucht, doch „(...) aus ihren [Ärzten] Händen sieht man keine kommen.“ 505 Die Medizin in Rousseaus Zeit wird zur Mode: „Das muss so sein, denn sie ist der Zeitvertrieb müßiger und untätiger Leute, die nicht wissen, wie sie ihre Zeit verwenden sollen, und sie damit zubringen, ihr Leben zu verlängern.“ 506 Aber wenn die Menschen unsterblich werden wollen, wären sie die armseligsten Geschöpfe, denn das Leben hätte für sie keinen Wert mehr. 507 Rousseau betrachtet die Medizin aus moralischer Sicht und stellt fest, dass Menschen durch Arztbesuche u.a. verängstigt werden. Sie sind zwar froh noch nicht tot zu sein, aber trotzdem nicht mehr lebensfähig, denn ihr ganzes Leben wird durch eine permanente Angst begleitet. Manche ärztliche Äußerungen werden von Patienten als „dummes Gerede“ aufgenommen. „Über die Behandlung eines Arztes erzählt er [Rousseau]: ‚Er hielt mir lange Reden, von denen ich rein nichts verstand; dann begann er nach seiner erhabenen Theorie... die Experimentalkur, die es ihm zu versuchen beliebte. Sie war so schmerzhaft, so widerlich und nützte so wenig, dass ich ihrer bald müde wurde.’“ 508 Es darf sicher nicht übersehen werden, dass „(...) die Wissenschaft, die uns belehrt, und die Medizin, die uns heilt, (...) zweifellos ihr Gutes [haben]; aber die Wissenschaft, die täuscht, und die Medizin, die tötet, sind schädlich.“ 509 Es stellt sich natürlich die Frage, wie man diese zwei Wirkungen der Medizin differenzieren kann. Dies beantwortet Rousseau wie folgt: „(...) wollten wir nicht der Natur zum Trotz geheilt werden, stürben wir nicht von der Hand des Arztes (...)“ 510 Sicher ist die Heilkunst unfehlbar und die Fehler liegen in den meisten Fällen beim Arzt. „Dann soll sie [die Heilkunst] ohne den Arzt kommen. Denn solange sie zusammenkommen, muss man hundertmal die Fehler des Künstlers fürchten als auf die Hilfe der Kunst hoffen.“ 511 Diese „Scheinkunst“ kann den Menschen erspart bleiben, denn sie bringt mehr Leid für den Geist als Heilung für den Körper und dadurch ist sie nicht mehr glaubwürdig zu heilen. Diesbezüglich kann behauptet werden, dass die Heilkunst uns eher Angst vor Krankheiten macht, als dass sie uns heilt. „Sie [die Heilkunst] schiebt weniger den Tod hinaus, als dass sie ihn uns früher fühlen lässt. Sie braucht das Leben auf, statt es zu verlängern, und wenn sie es verlängerte, ginge es wieder auf Kosten der Gattung, weil sie uns durch die erzwungene Pflege der Gemeinschaft, und durch den Schrecken, den sie uns einjagt, unseren Pflichten entzieht.“ 512 Es ist verständlich, denn der Mensch kann sich nur vor einer Gefahr fürchten, die er kennt. Emil dagegen wird diese Gefahr gar nicht kenn. Er wird entweder gar nicht krank oder lernt damit umzugehen. „Da das Kind sich nicht selbst zu heilen vermag, muss es lernen, krank zu sein. Diese Kunst tritt an die Stelle der anderen und hat oft größeren Erfolg: es ist die Kunst der Natur.“ 513 Die Tiere beispielsweise ziehen sich kraftlos und ruhig zurück, wenn sie krank sind. Sie folgen den Gesetzen der Natur und sind nicht so vielen Leiden ausgesetzt wie wir. „(...) Genau diese Lebensweise will ich meinem Zögling zuteil werden lassen.“ 514 Gegen die natürlichen Leiden anzukämpfen ist sinnlos, denn sie müssen notwendigerweise ertragen werden, und weil sie der Natur entsprechen, hat man sich damit abzufinden. „Der Mensch muss lernen und verstehen, was Leiden heißt; (...) und nur in dem Maße, wie er seine Umwelt mit allen ihren Erscheinungen bewältigt, gelangt er zu innerer Ruhe und Zufriedenheit.“ 515
501 Vgl. Rousseau, J. – J. (1971), S. 31
502 Ebd., S. 29
503 Ebd., S. 29
504 Ebd., S. 29
505 Ebd., S. 29
506 Ebd., S. 29
507 Vgl. ebd., S. 29
508 Rudolf, G. (1969), S. 33
509 Rousseau, J. – J. (1971), S. 29
510 Ebd., S. 29
511 Ebd., S. 30
Rousseau sieht als einzigen nützlichen Zweig der Medizin die Hygiene und er bezeichnet sie eher weniger als eine Wissenschaft als eine Tugend. Er betont: „Mäßigkeit und Arbeit sind die beiden wahren Ärzte des Menschen: die Arbeit fördert den Appetit und die Mäßigkeit verhindert die Völlerei.“ 516 Denn die Krankheit wird auch als Sinnbild für Maßlosigkeit betrachtet. Dies impliziert, dass arme Menschen nicht so stark betroffen sind, weil sie aufgrund ihrer geringeren Möglichkeiten zum Maßhalten gezwungen sind. Beobachtungen in den Naturvölkern zeigen, dass diese Menschen dort wohl ohne irgendeine ärztliche Intervention zurechtkommen und trotzdem gesund leben. 517
Deshalb wird in Hahnemanns Kommentar zu Rousseau auch geraten, den Kindern nicht präventiv Medikamente zu verabreichen, sondern nur den Arzt aufzusuchen, wenn das Kind ernsthaft krank ist. „Man gebe den Kindern nie Arznei bloß aus Vorsicht oder wegen unbedeutender Zufälle. Ärzte können nämlich in den meisten Fällen auch nicht weiterhelfen. „Der weise Locke, der einen Teil seines Lebens dem Medizinstudium gewidmet hatte, empfiehlt ausdrücklich, Kindern weder zur Vorbeugung noch wegen leichter Beschwerden Arzneien zu geben. Ich gehe noch weiter und erkläre, dass ich niemals, weder für mich noch für Emil, einen Arzt rufen werde, es sei denn, sein Leben wäre in Gefahr. Dann kann der Arzt auch nichts Schlimmeres tun als ihn töten.“ 518 Deneke schließt sich der Meinung Rousseaus an und postuliert: „Die Erkenntnis, dass die Menschen schließlich und endlich sterben müssen, obwohl es Ärzte gibt, wird von der Satire in der Behauptung überspitzt: die Menschen sterben, weil sie sich den Ärzten anvertrauen.“ 519 Schließlich gibt es ja auch noch Freunde und „Für Rousseau selbst sind Ratschläge guter Freunde und sinnvolle Beschäftigungen bester Ersatz für ärztliches Wirken“. 520 Trotzdem läuft das Volk oftmals aus Verzweiflung oder aufgrund „ärztlicher Propaganda“ den Quacksalbern und Kurpfuschern hinterher. 521 Multiple Spekulationen in der Medizin führen dazu, dass man ihr gegenüber skeptisch und misstrauisch wird. Diese Behauptung lässt sich an mehreren weiterführenden Beispielen belegen. So weiß der Mensch im 17. Jahrhundert bereits über die Grenzen und Schwächen der Medizin Bescheid, muss sich ihr aber trotzdem anvertrauen. 522 In der Literatur dieser Zeit wird die Arzt- und Medizinkritik besonders deutlich. Dies zeigt sich u.a. in Epigrammen sowie Molières „Der eingebildete Kranke“. Der Arzt wird als Totengräber, Geldschneider und Scharlatan und der Arztberuf als Sammelbecken für Nichtskönner gesehen. 523 Sogar noch im 19. und 20 Jahrhundert während des Choleraausbruchs zeigt sich die Medizin hilflos. Die damaligen präventiven Maßnahmen waren so simpel, dass man in permanenter Angst leben musste, kontaminiert zu werden. „Man sah das Unheil [die Cholera] kommen, man betete und hoffte und versuchte durch rigorose gesetzliche Maßnahmen ihr Auftreten zu verhindern oder wenigstens die Behandlung zu planen.“ 524 Sowohl die Preußen als auch Österreicher hatten damals beispielsweise ihre Ostgrenzen durch eine Militärkordon verriegelt. „Trotzdem brach 1831 die Cholera in Berlin und Magdeburg aus, sie forderte nach einer offiziellen Statistik im Jahre 1831 in Preußen von rund 13 Millionen Einwohnern 32 647 Todesopfer (bei 462 665 Toten insgesamt) (...).“ 525
512 Ebd., S. 30
513 Ebd., S. 30
514 Ebd. S. 31
515 Rudolf, G. (1969), S. 37
516 Rousseau, J. – J. (1971), S. 31
517 Vgl. ebd., S. 31
Aus anthropologischer Sicht gesehen, wird Krankheit als ein Ausdruck für die Konsequenz von Sünde betrachtet. Unter diesem Aspekt erhält der Arzt die Funktion, Diener Gottes zu sein. In dieser Zeit ist aber die vorherrschende Meinung, dass die Natur selbst den Kranken heilt. 526 Die Mediziner scheinen in der Prävention und Intervention zu versagen, denn ihnen sind die Hände gebunden. Sie wissen nicht, was gemacht werden muss, um z.B. Epidemien zu stoppen. Und das Volk sucht – wie es in einer verzweifelten Situation üblich ist – im Gebet seine Zuflucht. „Überhaupt war man sich über die Ursache der Krankheit – wie bei allen anderen Infektionen auch – noch nicht im Klaren und stritt fast bis zur Entdeckung ihres Erregers, des Vibrio cholerae, durch Robert Koch im Jahre 1883 heftig darüber, ob die Cholera durch ein ansteckendes »Contagium« oder durch eine Ausdünstung, ein »Miasma« , hervorgerufen wurde.“ 527 „Ein Zeichen der Zeit ist es, Körper und Seele im Zusammenhang zu sehen.“ 528 Der Mensch von damals verfügt über die Erkenntnis, dass die Seele und der Körper in einer reziproken Beziehung zueinander stehen, d.h. sie beeinflussen sich gegenseitig und krank wird der, der auch seelisch und charakterlich schwach ist.
518 Ebd., S. 30
519 Deneke, J. F. V. (1969), S. 173f
520 Rudolf, G. (1969), S. 38
521 Vgl. Kevekordes, B. (1987), S. 42
522 Vgl. ebd., S. VII
523 Vgl. ebd., S. 33
524 Brans, H. O. (1992), S. 41
525 Ebd., S. 41
Ferner zeigt sich die Malaria zu Beginn des 19. Jahrhunderts und wieder sind die Mediziner überfordert, obwohl z.B. diese Krankheit in Deutschlands wärmsten Teilen wie Bayern, aber auch in Schleswig – Holstein früher heimisch war. 529 „Sie herrschte also mit gewissen, insbesondere jahreszeitlichen, Schwankungen fast ständig und forderte auf längere Zeit gerechnet mindestens so viele, wenn nicht mehr, Kranke und Tote als die großen Epidemien.“ 530 Um die Wende zum 20. Jahrhundert ist an der Spitze der Todesursachenstatistik die Tuberkulose der Atmungsorgane zu finden. Auch hier ist die Medizin hilflos bezüglich der exakten Diagnostik, bis Robert Koch im Jahre 1882 endlich den Erreger entdeckt. „Bei der Bekämpfung der Tuberkulose erwiesen sich Maßnahmen zur Besserung der hygienischen Verhältnisse und zur Behebung der Armut zunächst als weit effektiver als jedes Medikament.“ 531 Die Medizin macht in diesen Jahren zwar Fortschritte in mancher Hinsicht, indem sie z.B. unter dem Einfluss der Physiologen, physikalische und chemische Gesetze auf den menschlichen Organismus anzuwenden lernt. Aber „(...) leider hielt die Therapie nicht mit der Entwicklung der Diagnostik Schritt; manches erkannte man jetzt, ohne es beeinflussen zu können. Viele Ärzte verfielen aus einem Gefühl der Ohnmacht einem »therapeutischen Nihilismus«, aus dem heraus sie, um wenigstens nicht zu schaden, lieber gar nichts taten.“ 532 Der Arzt versteckt sich hinter seinem traditionellen Wissen, spielt seine Überlegenheit dem Patienten gegenüber aus und verhält sich distanziert, damit er seine Ohnmacht nicht zugeben muss, wenn er ratlos ist.
526 Vgl. Kevekordes, B. (1987), S. 56
527 Brans, H. O. (1992), S. 43
528 Kevekordes, B. (1987), S. 68
529 Vgl. Brans, H. O. (1992), S. 45
530 Ebd., S. 45
531 Ebd., S. 48f
532 Ebd., S. 56
Der Mensch verfügt jedoch auch über eine natürliche Heilkraft in seinem Organismus. Dies wurde bereits „(...) in der abendländischen Tradition zunächst von der hippokratischen Medizin geprägt.“ 533 Sowohl der griechische Begriff physis bzw. der lateinische natura als auch der „inwendige Arzt“ eines Menschen, die „(...) als Triebfeder für die Gesundung und Gesunderhaltung des menschlichen Organismus“ 534 gesehen werden können, dienen dem Verständnis dieses Gedankens. Auch die galenistischen Säfte bzw. die Temperamentenlehre im 18. Jahrhundert belehrt, dass „(...) diese Lebenskraft Unausgewogenheiten der Säfte bzw. des Temperaments (intemperies) im menschlichen Körper ausgleicht und von außen drohende Gefahren für die Gesundheit abwehrt.“ 535 Weiterhin tritt um 1700 die Theorie vom Phlogiston auf, die besagt, dass zu einem hypothetischen chemischen Lebensstoff sowohl physikalische als auch seelisch – geistige Vorstellungen von der Lebenskraft des Organismus in Beziehung gesetzt werden. 536 Die von Haller gewonnenen Erkenntnisse über das Nervensystem rücken in den Mittelpunkt der medizinischen Betrachtung. „Die Nervenkraft (« Nervenfluidum », « Nervenspiritus », « Nervengeist » etc.) erschien als Lebenskraft schlechthin, welche im Organismus nun eine Schlüsselrolle einnahm.“ 537 Der Mensch ist wohl mit Heilkräften in sich von Geburt an ausgestattet. „Diese Kräfte liegen in der Wiederherstellung des verlorenen, in der Verbindung und Befestigung des zerrissenen und zerbrochenen, in der Abscheidung des fehlerhaften und besonders in der Eiterung, in dem Auswurf des schädlichen durch die gewohnten und ungewohnten Gänge, zuweilen in dem Fieber, in der Beyhülfe (sic) der mitleidenden Theile (sic), in der Lebensart, der Gewohnheit, in der Stärke des Temperaments, in gewissen Seltsamkeiten der Natur, und in der Gewalt der Seele über den Körper....[776].“ 538 Schott differenziert vier Arten der Lebenskräfte: Die Zusammenziehbarkeit, die Hallenische Reizbarkeit, die Empfindlichkeit und das besondere Leben. Die Zusammenziehbarkeit bzw. das Bestreben sich zusammenzuziehen hat seine Kraft im Zellgewebe und diese Kraft verbreitet sich über den ganzen Körper. 539 Die Hallenische Reizbarkeit wird als ein spezieller Charakter der Muskelfaser bezeichnet. „Sie äußert sich durch eine besonders schwingende, und gleichsam bebende Bewegung.“ 540 Diese Lebenskraft unterscheidet sich von der Zusammenziehung, indem sie „(...) von einem jedem schärfern Reitz (sic) leicht wieder erweckt wird.“ 541 Die Empfindlichkeit „(...) die auch, weil sie ein Vorrecht des mit dem Gehirn verbundenen Nervenmarkes ist, die Nervenkraft heißt, von der es herrührt, dass die empfindlichen Theile (sic), wenn sie auf irgendeine Weise gereitzt (sic) werden, die Empfindung dem Gehirn mittheilen (sic).“ 542 Da sich diese drei Arten der Lebenskräfte in identischen Teilen des menschlichen Körpers äußern, werden sie als die „gemeinschaftlichen“ Lebenskräfte bezeichnet. Die Kräfte, die an einzelnen, zu einzelnen Verrichtungen bestimmten Organen wahrgenommenen werden, werden als das „besondere Leben“ betrachtet. 543 Zu diesem besonderen Leben gehört u.a. die Bewegung des Augensterns, das Geschäft der Gebärmutter bei der Geburt, etc. 544 „Bereits in der griechischen Medizin (Galen, 2. Jh. N. Chr.) lokalisierte man die Seele in den Hirnhöhlen, eine Lehre, die in der scholastischen Medizin des Mittelalters zur « Dreikammer – Theorie » ausgebaut wurde, wonach sinnliche Einbildung in die erste, die Denkkraft in die zweite und das Gedächtnis in die dritte Kammer (Hirnhöhle) verlegt wurde.“ 545 Diesbezüglich kann das Gehirn in der Medizin als Sitz der Seele bezeichnet werden. Das Seelenorgan steht in Wechselwirkung mit den Nerven, denn „(...) concentriren (sic) sich aber alle mittelst der Nerven gegen’s Hirn zu geschehende Bewegungen in der Flüssigkeit der Hirnhöhle: so entstehen auch alle aus dem Hirne kommenden Bewegungen in der nämlichen Feuchtigkeit der Hirnhöhlen.“ 546
533 Schott, H. (1998), S. 12
534 Ebd.,S. 12
535 Ebd., S. 12
536 Vgl. ebd., S. 12
537 Ebd., S. 12
538 Ebd., S. 13
539 Vgl. ebd., S. 14
Auch die Kinderkrankheiten, die heutzutage durch Impfungen und Medikamente gut zu beherrschen und zu beseitigen sind, bereiten der Medizin noch anfangs des 18. Jahrhundert eine unlösbare Problematik. Während dieser Zeit sterben nicht nur viele Kinder, sondern auch Erwachsene an solchen Krankheiten wie Masern, Keuchhusten etc. 547 Noch im 19. Jahrhundert müssen viele Kinder nicht nur dem Typhus und anderen Darmerkrankungen, sondern auch banalen Brechdurchfällen, die zu Flüssigkeits- und Mineralverlust führen, zum Opfer fallen. Bis zu diesem Zeitpunkt war die Medizin von der einfachen Infusionsbehandlung natürlich noch weit entfernt. 548 „Durch verschiedene Viren und Bakterien hervorgerufene infektiöse Darmerkrankungen, die wie die Malaria endemisch verbreitet waren und sich in den Gesundheitsberichten des 19. Jahrhunderts hinter Ausdrücken wie »gastrisch – nervöses Fieber«, »Nervenfieber« »Schleimfieber« oder hinter Krankheiten mit »typhösem Charakter« bis zum »förmlichen Typhus« verbergen, befielen zwar alle Altersstufen, gefährdeten aber besonders Säuglinge und Kleinkinder.“ 549
540 Ebd., S. 14
541 Ebd., S. 14
542 Ebd., S. 14
543 Vgl. ebd., S. 14
544 Vgl. ebd., S. 14
545 Ebd., S. 17f
546 Ebd., S. 21
547 Vgl. Brans, H. O. (1992), S. 44
Da das Kind auch eine Herausforderung für die Medizin ist, wird sie in Theorie und Praxis alle ihre Erfahrungen in die Versuche einordnen, „(...) die zunächst nichts anderes als verhindern wollen, dass das fragile Gebäude der kindlichen Physis einstürzt.“ 550 Das Ziel der Medizin bzw. der Heilkunde hinsichtlich des Kindes kann in Relation zur Pädagogik Rousseaus betrachtet werden. Die Medizin versucht nämlich auch dem Kind nicht nur bei seinen Schwächen zur Seite zu stehen, sondern ihm zu helfen, stark zu werden. Dass das Kind das schwächste Glied ist und Liebe, Aufmerksamkeit, Geborgenheit, Schutz, Pflege etc. braucht, ist in der historischen Anthropologie des Kindesalters bekannt. Seidler artikuliert das so: „Die in fast alle Kultursprachen übergegangene lateinische Bezeichnung infans (nicht sprechend) meint dabei mehr als die Unfähigkeit der Kleinkinder, zu sprechen, sondern verweist im anthropologischen Sinne auf die physische, psychische und soziale Schwäche des Kindes, das seine Nöte nicht selbst vertreten kann.“ 551 Die Art und Weise, wie man mit den schwächsten Gliedern umgeht, hat unterschiedliche Strukturen entwickelt. Das Kind wird entweder angenommen oder abgelehnt. Es wird gepflegt oder aber vernachlässigt. „Die Rolle der Heilkunde ist dabei keine isolierte; auch sie steht in der Herausforderung, die ein Kind allein dadurch darstellt, dass es gezeugt und geboren wird, Nahrung, Pflege und Unterweisung erheischt und zu alldem Hilfe benötigt.“ 552 Am Anfang liegen Säuglinge in den meisten Fällen ganz friedlich da und brauchen einfach nur viel Schlaf. Aber auch schon da kann man beobachten, dass sie niemals bewegungslos sind. Das Kind braucht die Bewegung für sein Wachstum. Darum stößt das damalige Wickeln der Kinder z.B. bei Rousseau auf scharfe Kritik. Das Kind, das gerade erst zur Welt gekommen ist, hat das Bedürfnis, seine Glieder auszustrecken, aber das Wickeln seines Körpers hindert es daran sich zu bewegen und somit wird seine Freiheit eingeschränkt. Man ging damals sogar soweit, gewickelte und geschnürte Kinder an einem Haken aufzuhängen, damit es keine Störungen gab, während die Amme gemächlich ihren Beschäftigungen nachging. „Alle Kinder, die man in dieser Lage fand, waren im Gesicht schon blau, weil das Blut nicht mehr kreisen konnte und zu Kopf stieg. Weil sie nicht mehr die Kräfte hatten zu schreien, glaubte man, sie hätten sich beruhigt.“ 553 Ein solcher Fehler in der Erziehung, der durch Unwissenheit oder Ignoranz seitens der Erzieher entsteht, kann das Leben des Kindes kosten. „So werden die für den Wachstumstrieb notwendigen Bewegungen verhindert. Das Kind erschöpft seine Kräfte, das Hindernis zu beseitigen, und verzögert seine Entwicklung.“ 554 Sollte das Kind in seiner Freiheit eingeschränkt werden, ist seine Existenz sinnlos. Die Freiheit ist ein wichtiger Aspekt, damit man zu der Natürlichkeit, für die Rousseau plädiert, gelangen kann. 555 Das Kind, das die äußere Freiheit genießt, besitzt die Möglichkeit, sich auch frei zu bewegen und somit „problemlos“ zu explorieren. „Wenn es [das Kind] anfängt stärker zu werden, so lasse man es auf dem Boden des Zimmers umherkriechen. Lasst es seine kleinen Gliedmaßen ausdehnen und anstrengen, und man wird sehen, dass es von Tag zu Tag mehr Kraft gewinnt.“ 556 Durch die Freiheit werden seine Organe und Sinne automatisch aktiviert, sodass es Selbsterfahrungen macht und sich natürlich verhält. Wenn man dem Kind kaum Gelegenheit gibt, sich frei zu bewegen, kann die Inaktivität, in der sich die Glieder des Kindes befinden nur die Zirkulation des Blutes und der Säfte stören. Das Kind wird daran gehindert, sich zu kräftigen und zu wachsen. Dadurch wird sich die Konstitution verschlechtern. Die Kinder werden durch diese übervorsichtige Maßnahme der Eltern oder auch der Bezugspersonen zu Gelähmten gemacht, nur damit sie nicht zum Krüppel werden. Man versucht die Gliedmaßen des Kindes auf Kosten seines Leibes zu behüten und dies ist unangebracht, denn Kinder sollten die natürlichen Grenzen spüren und nicht die menschlichen. Sie sind ohnehin nicht so stark, dass sie sich über ihre Kräfte bewegen. Sie überschätzen sich nicht so schnell und so oft wie Erwachsene, denn sie merken nach kurzer Zeit, was ihre Kräfte erlauben zu tun und was nicht. Sollten sie sich einmal in eine schlimme Position bringen, so würden sie aufgrund von Schmerzen nach Hilfe rufen.
548 Ebd., S. 48
549 Ebd., S. 47
550 Seidler, E. (1984), S. 109
551 Ebd., S. 109
552 Ebd., S. 109
Wie das Wickeln und das Schnüren kritisiert Rousseau auch die Tatsache, dass viele Frauen ihr Kind nicht selbst stillen wollen, sondern dies lieber einer fremden Frau (Amme) überlassen. Das neugeborene Kind benötigt in erster Linie die Muttermilch, die seinem Alter entspricht, denn dies ist ein weiterer wichtiger Faktor in der Entwicklung des Kindes. „Die Natur verändert nicht umsonst bei allen Weibchen die Dicke der Milch nach dem Alter der Säuglinge.“ 557 Somit ist nicht jede Amme geeignet, die Ernährung eines Kindes zu übernehmen. Doch die Muttermilch ist die einzige Nahrung für das Neugeborene, weil seine Organe nichts anderes aufnehmen können. Durch diese natürliche Ernährung wird das Kind stark und munter. Außerdem ist es psychologisch bewiesen, dass die Zeit, in der der Säugling bei der Mutter trinkt, eine große Rolle für die spätere Bindung zwischen ihm und seiner Mutter spielt. 558 Das Stillen wird deshalb von Rousseau nicht nur für das Kind als wichtiger natürlicher Akt betrachtet, sondern er sieht darin auch für die Mutter ein wertvolles Erleben. „(...) fühlt nicht eine gesunde Mutter, wenn der Säugling mit unnachahmlich weichen Lippen und tätiger Zunge ihre Brüste saugt, und mit seinen Händchen daran spielt, eine unnennbare teils körperliche, teils geistige Wollust, die alle Genüsse der Welt aufwiegt?“ 559 Außerdem ist es von großer Relevanz, dass die Mutter selbst ihr Kind stillt, damit der Bund der Familie auf natürliche Weise erhalten bleibt. „Wenn sich jedoch die Mütter dazu verstünden, ihre Kinder selbst zu nähren, so werden sich die Sitten von selbst erneuern und die natürlichen Regungen erwachen. (...) Der Zauber des häuslichen Lebens ist das beste Gegengewicht gegen schlechte Sitten. (...) und die Natur würde ihre Rechte zurückerhalten.“ 560 Eine Distanz zwischen Müttern und Kindern jedoch beeinträchtigt die Bindung und somit verliert auch die Familie an Bedeutung. Die familiären Verhältnisse und die damit verbundenen Rollen gehen dadurch verloren, denn man hat kaum noch miteinander zu tun und jeder verhält sich egoistisch.
553 Rousseau, J.-J. (1971), S. 17
554 Ebd., S. 16
555 s. auch Punkt 2.1.6 „Natürlichkeit als Erziehungsnorm“
556 Hahnemann, S. & Rousseau, J. – J. (1985), S. 24
4. Kritik
Rousseau muss vorsichtig kritisiert werden, denn er hat sein eigenes Vokabular. Er spricht die Sprache der Natur und betont, dass uns die Natur niemals täuschen würde, wenn wir sie erkennen, respektieren und akzeptieren. 561 Nichtsdestotrotz ist der Mensch ein historisches Wesen, weshalb aus heutiger Sicht, Kritik bezüglich Rousseaus Entwicklungstheorie geübt werden muss. Die Tatsache, dass er Emil in der Abgeschiedenheit von dieser Welt erzieht, könnte insofern interpretiert werden, als würde er das Kind nicht nur von seiner Familie ablösen wollen, sondern sogar von seiner Gesellschaft. Diesbezüglich behauptet z.B. Faguet, dass man aus „Emil“ keine praktische Anwendung ziehen kann. Faguet fragt sich außerdem, wie die familiäre Erziehung, die seiner Auffassung nach die höchste Priorität hat, funktionieren soll. „Malgré cela, et par un retournement dont Faguet est coutumier, Emile est le ‘traité d’ éducation qui, quelques critiques de détail que nous en ayons pu faire, est le plus beau et l’ un des plus sensés et pratiques que nous connaissons.’“ 562 Rousseau postuliert, dass der Vater der wahre Lehrer sei , 563 und ein Mensch nur ein Kind erziehen könne 564 , dies ist heutzutage durch die neue Individualisierung einerseits 565 und die vielen verschiedenen Sozialisationsinstanzen andererseits nicht mehr möglich, denn die Erziehung als ein reziproker Prozess zwischen dem zu Erziehenden und dem Erzieher liegt nie ganz allein in der Hand eines Menschen. Die Umgebung sowie auch z.B. Familie, Schule, Kindergarten, Peers, usw. üben einen direkten oder auch indirekten Einfluss auf die Erziehung eines Kindes aus, prägen und prädestinieren es – bis zu einem gewissen Grad auch für die Zukunft.
557 Rousseau, J. – J. (1971), S. 32
558Denn „Bindungen wachsen durch Nähe und Zuverlässigkeit“ Das Kind trinkt nicht nur an der Brust der Mutter, sondern nimmt seine Mutter auf seine Art wahr. Es riecht, fühlt, und schaut ihr in die Augen. Stillen ist: „(...) ein tiefes Erleben für das Kind, das bis in alle Fasern seines Körpers den Lebensstrom der Mutter fühlt. Damit kann im Kinde der Grund gelegt werden für ein Daseinsgefühl, das für das ganze Leben tragend zu werden vermag: das Vertrauen in die Güte der Welt. In: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (1994), S. 29
559 Hahnemann, S. & Rousseau, J. – J. (1985), S. 7
560 Rousseau, J. - J. (1971), S. 19f
561 Vgl. L’ Aminot, T. (1999), S. 333
Ein Gedanke Rousseaus, der ebenfalls auf Kritik stoßen könnte, zeigt sich bezüglich der Wahl des Kindes und seiner Gesundheit. Zwar schuldet ein Vater Rousseaus Auffassung nach allen seinen Kinder die gleiche Liebe und Fürsorge, ganz gleich, ob sie stark, schwach, krank oder gesund sind, aber er selbst wählt sich bewusst einen gesunden Schüler, weil er nicht die Rolle eines Krankenpflegers übernehmen möchte. „Ich mag keinen Zögling, der sich selbst und anderen unnütz ist, (...). Verschwende ich meine Fürsorge an ihn, so verdopple ich den Verlust, indem ich der Gesellschaft zwei statt nur einen Menschen entziehe.“ 566 Diesen Aspekt könnte man auch im Sinne vom Darwinismus interpretieren, denn danach haben nur die Starken die Möglichkeit bzw. das Recht zu leben. Dies ist jedoch nicht nur pädagogisch indiskutabel, sondern auch in moralischer, ethischer, sozialer, religiöser und menschlicher Hinsicht unvertretbar.
Ferner ist auch die folgende Aussage von Rousseau zu kritisieren. „So wie die Mutter die echte Amme ist, ist der Vater auch der echte Lehrer.“ 567 Diese Äußerung trifft heutzutage vielleicht noch bei den Naturvölkern, aber in den Industrieländern überhaupt nicht mehr zu. Auch die Tatsache, dass Rousseau eine Differenzierung zwischen Knaben- und Mädchenerziehung vornimmt, kann aus heutiger Sicht nicht mehr nachvollzogen werden. 568 Rousseau bevorzugt die geschlechtsspezifische Erziehung, wenn er z.B. postuliert: „Die Mädchen sind im ganzen folgsamer als die Knaben. (...) Sie [die Mädchen] müssen wachsam, aufmerksam und arbeitsam sein: aber das ist noch nicht genug, sie müssen auch frühzeitig Gebundenheit ertragen lernen.“ 569 Obwohl Rousseau eigentlich dafür ist, das Temperament des Kindes zu achten und zu respektieren, werden die Mädchen nach seiner Erziehung dennoch „verformt“. Ob Mädchen oder Knabe, das Kind ist in erster Linie ein schwaches Wesen, das durch die Erziehung Stärke bekommt. Seine Entwicklung ist von so vielen Faktoren abhängig, dass es m. E. unwichtig ist, eine Selektion bei Kindern hinsichtlich ihrer Entwicklung und Erziehung aufgrund ihres Geschlechts vorzunehmen. Die geschlechtsspezifische Erziehung bei Rousseau entspricht einem Armutszeugnis für die Entwicklung des weiblichen Geschlechts, denn diese reduziert Mädchen bzw. Frauen nur auf die Rolle einer zukünftigen Ehefrau und Mutter. Die Aufgabe der Frauen ist diesbezüglich eindeutig, aber aus heutiger Sicht betrachtet, braucht das Kind nicht mal unbedingt seine leibliche Mutter, um eine „unproblematische“ Entwicklung zu erlangen, sondern lediglich eine Bezugsperson. 570 Das Mädchen bzw. die Frau scheint gar keine eigene Daseinsberechtigung zu haben. Dieser Gedanke Rousseaus lässt sich nur durch eine historische Darlegung der damaligen Verhältnisse erklären und verstehen. Während man in den 70er und 80er Jahren Rousseau als Frauenfeind betrachtet, weil er die Charaktere der Geschlechter so polarisierend gegenüber stellt, wird Rousseau von zeitgenössischen Frauen meist positiv aufgenommen, denn sie sehen in Rousseaus Darstellung Möglichkeiten neuer Einflussnahme und Macht der Frauen. 571 Außerdem stößt Rousseaus „Emil“ hinsichtlich seines Bildungsprinzip auf scharfe Kritik, denn „(...) empirische Pädagogik kann nur Forschungen betreiben, welche die Verhältnisse innerhalb einer gesellschaftlichen Wirklichkeit betreffen, die aus der Rousseauschen Optik bereits als ganze der Kritik unterworfen ist.“ 572 Wenn man also die Realität einer Korrektur unterziehen möchte, werden diesen Maßnahmen lediglich dazu führen, dass sich die Situation verschlimmert, denn die Realität ist aufgrund ihrer Grundbeschaffenheit für den Menschen und seine Menschlichkeit bereits verdorben. 573 Daraus resultiert, dass „Emil“ nicht als „reformpädagogisches Waffenarsenal“ 574 gelesen werden darf. Es soll eher als ein radikaler Entwurf gegen die damalig vorherrschende „Erziehungswirklichkeit“, die bereits viele Defizite aufweist, betrachtet werden. Die Pädagogik und erziehungswissenschaftliche Forschung werden in Betracht gezogen, diese erziehungsdesolaten Zustände zu korrigieren bzw. zu reparieren. Hansmann behauptet sogar, dass Rousseaus Entwurf weder für die empirische Pädagogik noch für die Erziehungswissenschaft brauchbar sei, denn er kritisiert radikal die gesamte Gesellschaft. „So kann man es sich vielleicht erklären, dass das Freiheitsthema nicht nur in der Rousseau – Interpretation, sondern in der Pädagogik generell so wenig Beachtung gefunden hat, wie es in der Tat der Fall ist.“ 575 Ferner wird in Hansmann behauptet, dass es sich nur rentiere, „Emil“ als Theorie zu lesen, wenn es primär um die Bildung der Freiheit, die sich in dem Diskurs über den Ursprung der Ungleichheit aus dem Jahre 1755 bestärken lässt, handelt. 576
562 Ebd., S. 498
563 Vgl. Rousseau, J. - J. (1971), S. 22
564 Vgl. ebd., S. 26
565 „Individualisierungstheorie: Beck – Gernsheim unterscheidet drei Bedeutungsdimensionen von Individualisierung, zu denen sie die „Befreiung aus traditionellen Kontrollen“, den „Verlust traditioneller Stabilitäten“ und „Neue Bindungen, Zwänge, Kontrollen“ zählt. Beck – Gernsheim, E. (1994), S. 125 – 146
566 Rousseau, J. - J. (1971), S. 28
567 Hahnemann, S. & Rousseau, J. – J. (1985), S. 26
568Frauen und Männer haben die gleichen Rechte und Pflichten. Allein die Äußerung, dass Mädchen darauf vorbereitet werden, ihre Mutterrolle in der Gesellschaft zu übernehmen, ist diskriminierend und somit aus heutiger Sicht weder verständlich noch nachvollziehbar!
569 Hahnemann, S. & Rousseau, J. – J. (1985), S. 95
570Aus den Untersuchungen von Rene Spitz geht hervor, „(...) dass das Fehlen gefühlsbetonter Zuwendung in der frühen Kindheit zu irreparablen Schäden führt. (...) dass [allerdings] nicht die leibliche Mutter die Bezugsperson sein muss, sondern dass sie durch jede andere Person ersetzt werden kann, die ihre Funktion in ausreichendem Maße übernimmt.“ In: Menschik, J. (1971), S. 76 Demnach kann es keine große Rolle mehr für das Kind spielen, ob es mit der Milch seiner leiblichen Mutter oder einer anderen Frau ernährt wird. Allerdings wäre es nach Rousseau auf jeden Fall besser, wenn jede Mutter ihre Kinder mit mütterlicher Fürsorge, die unersetzlich ist und Muttermilch aufziehen könnte. S. auch Punkt 3.5 „Medizin“, S. 105 (Stillen)
571 Vgl. Felden, H. v. (1997), S. 2 - 3
Die Tatsache, dass Rousseau das Tier vom Menschen nicht in Bezug auf den Verstand differenziert, sondern auf dem Grad der Eigenschaft, frei handeln zu können, eröffnet nicht nur eine neue anthropologische Perspektive in der Erziehungstheorie, sondern setzt sie sogar auf eine neue Basis. „Von diesem Ansatz, den Menschen als freies Wesen zu betrachten, ist er auch im „Emile“ nicht abgerückt (...).“ 577
572 Hansmann, O. (1996), S. 141
573 Vgl. ebd., S. 141f
574 Vgl. ebd., S. 142
575 Ebd., S. 142
576 Vgl. ebd., S. 142
577 Ebd., S. 142
5. Resümee
„Émile ist weder ein realer noch ein möglicher Zögling, sondern ein idealtypisches Konstrukt, das in keiner wie auch immer gearteten Erziehungsrealität vorkommt.“ 578 Dieser Aspekt sollte unbedingt bedacht werden, wenn man aus dem Werk „Emil oder über die Erziehung“ fruchtbare Erziehungsideen schöpfen möchte, denn ’« Émile ist ein Magazin, reich an Gedanken, aus dem die Erzieher schöpften (...).“ 579 „Emil“ ist als ein Gedankenexperiment zu betrachten und nicht als ein bestimmtes Erziehungsbuch zur Anwendung für Eltern. Dies lässt sich an diesem folgenden Beispiel verdeutlichen. „– Im Jahre 1767 besuchte ihn [Rousseau] in Straßburg ein Herr Argand aus unserer Stadt, stellte ihm seinen Sohn vor und sagte: Sie sehen hier, Monsieur, einen Mann, der seinen Sohn nach Ihren Prinzipien, die er das Glück hatte aus Ihrem Émile zu schöpfen, erzogen hat. Das ist bedauerlich, antwortete ihm Jean – Jacques, bedauerlich für Sie und für Ihren Sohn, wirklich bedauerlich. –“ 580 Diese Reaktion von Rousseau ist durchaus sehr verständlich, „(…) car l’ éducation selon Emile est malheureusement impossible, puisqu’ il faudrait un précepteur, et de génie, pour chaque enfant; (…).“ 581 In Rousseaus „Emil“ geht es in erster Linie um den philosophischen Gedanken, dass der Mensch von Natur aus gut ist bzw. um die menschliche Entartung durch seine gesellschaftliche Existenz bzw. durch die Sozialisation.“ 582 Deshalb ist es von großer Relevanz, eine philosophische Pädagogik zu betreiben, denn „’(...) in der frühen Kindheit treten kaum Probleme auf, erst am Ende der Pubertät stoßen wir auf die großen Probleme, religiöser, politischer und moralischer Art. Zu diesem Zeitpunkt muss man sich auf eine verlässliche philosophische Konzeption stützen’“. 583 Bei Emil ist dies gelungen, er lebt in Einklang mit der Natur und bildet eine Einheit, denn „’(…) il n’ exige rien de personne et ne croit rien devoir à personne: il est seul dans la société humaine, il ne compte que sur lui seul. Il a droit aussi plus qu’ un autre de compter sur lui-même: car il est tout ce qu’ on peut être à son âge. ‘“ 584
Dass Rousseaus „Emil“ nicht frei von Einflüssen ist, ist offensichtlich. Viele von Rousseaus Erfahrungen und Erlebnissen spiegeln sich in seinem Werk wieder und seine Biographie zeigt, dass der Weg bis zu „Emil“ nicht nur lang, sondern auch voller Hindernisse war. „Il ne faut pas, en effet, se placer sur le plan de la psychologie descriptive pour comprendre la longue torture que s’infligea Rousseau, mais sur celui de la morale et des valeurs.“ 585
578 Birr-Chaarana, E. (1993), S. 51
579 Hansmann, O. (1996), S. 127
580 Ebd., S. 93
581 L’Aminot, T. (1999), S. 154
582 Vgl. Hansmann, O. (1996), S. 141
583 Ebd., S. 121
584 L’ Aminot, T. (1992), S. 501
Rousseaus Erziehungskonzeption ist in der Pädagogik zwar sehr relevant, aber doch nicht ganz neu, denn Locke und andere Denker wie Montaigne haben seine Gedanken diesbezüglich stark beeinflusst. Wirft man einen Blick in John Lockes „Gedanken über die Erziehung“, so lässt sich erkennen, dass er ein erheblicher Einflussfaktor für Jean – Jacques Rousseaus Entwicklungstheorie ist. Er hat ihn sogar so stark beeindruckt, dass man behaupten kann, Rousseau hat seine Entwicklungstheorie auf Lockes „Gedanken über die Erziehung“ aufgebaut. Auch Rattner ist der Auffassung, „(...) dem „Emil“ Rousseaus haben sowohl die „Essais“ von Montaigne (1580) als auch die „Gedanken“ Lockes Pate gestanden.“ 586 Dietrich geht sogar noch einen Schritt weiter, wenn er feststellt, Jean – Jacques Rousseau sei ein „ » Alles – Zermalmer « ,der den pädagogischen Grundgedanken Lockes zwar nichts Neues hinzufügt, sie aber in eine revolutionäre Sprache übersetzt.“ 587 Dies ist jedoch eine nicht haltbare Behauptung, denn Rousseau übt u.a. Kritik an Locke in manchen Punkten, wenn es beispielsweise um das Wassertrinken geht. Während Locke rät, einem erhitzten Kind vor dem Trinken erst ein Stück Brot zu geben, vertritt Rousseau die Ansicht, dass ein Kind zu trinken bekommen soll, wann auch immer es Durst hat. 588 Und dies ist nicht der einzige Punkt, den Rousseau in seinem Werk „Emil“ an Locke direkt kritisiert. Auch in Bezug auf Kindergeschenke 589 oder auf die Leselernmethoden 590 findet man direkte Kritik von Rousseau an Locke. Auf der anderen Seite betont Rousseau die Wichtigkeit von Aspekten der Erziehung und Entwicklung, die Locke bereits im 17. Jahrhundert erkannt und entwickelt hat und schließt sich ihnen an. So berichtet Locke z.B. über das harte Liegen folgendes: „Das Bett sei hart, und Matratzen sind besser als Federbetten. Ein hartes Lager stärkt die Glieder, hingegen jede Nacht sich in Federn zu begraben verweichlicht den Körper und macht ihn untüchtig, ist oft die Ursache von Schwächlichkeit und der Vorbote eines frühen Todes. Abgesehen von Nierensteinen, die häufig entstehen, wenn die Nieren zu warm eingepackt sind, sind verschiedene andere Gesundheitsstörungen und die Wurzel all dieser, nämlich eine zarte und schwächliche Konstitution, besonders den Daunenbetten zuzuschreiben.“ 591 Rousseau übernimmt Lockes Gedanken teilweise sogar wörtlich und sagt: „Ein weiches Bett, in dem man sich in Federn und Daunen vergräbt, erschlafft den Körper und löst ihn sozusagen auf. Die Nieren erhitzen sich in den warmen Hüllen. Daraus entstehen oft Nierensteine und andere Leiden, unweigerlich aber eine Anfälligkeit für alle Leiden.“ 592 Die Liste solcher Beispiele, die Rousseaus Verbundenheit zu Locke aufzeigen, ließe sich beliebig fortsetzen, auch wenn es um die anderen Vorstellungen in Bezug auf die Entwicklung und Erziehung des Kindes geht. Rousseau erwähnt John Locke sogar des Öfteren in seinem Werk „Emil“ direkt. Er bezieht sich u.a. auf ihn, als es beispielsweise um die Heilkunst geht. 593 Überhaupt muss Locke als enormer Einflussfaktor gesehen werden, denn er hat auch Voltaire beeinflusst, der „(...) einer ganzen Epoche, die er [Voltaire] wie wenige andere geprägt hat, den Namen: Siècle de Voltaire, Siècle des Lumières.“ 594 gegeben hat. „Newton und Locke, den er [Voltaire] schon gelesen hat, prägen Voltaires Denken.“ 595 Und da Voltaire 596 , als Rousseaus Zeitgenosse, auch Rousseau beeinflusst hat, wird Lockes Einfluss besonders deutlich.
585 May, G. (1961), S. 42
586 Rattner, J. (1956), S. 56
587 Dietrich, T. (1975), S. 28
588 „Locke verfällt mitten unter männlichen und vernünftigen Vorschriften in Widersprüche, die man bei einem so exakten Denker nicht erwarten sollte. (...) Um erhitzte Kinder am Trinken zu hindern, schreibt er vor, dass man sie vorher ein Stück Brot essen lasse. (...) Man wird mich nie überzeugen können (...). Wann immer Emil Durst hat, soll er zu trinken bekommen und zwar klares Wasser ohne jede Zubereitung und ohne Abstehen, auch wenn er vor Schweiß trieft oder wenn es mitten im Winter ist.“ Rousseau, J. – J. (1971), S. 114f
589 Vgl. ebd., S. 84
590 Vgl. ebd., S. 101
Aufklärerische Einflüsse haben auf Rousseau insofern Wirkung gezeigt, als dass er sich von dieser Geisteshaltung bewusst distanziert hat. Es muss betont werden, dass Jean – Jacques Rousseaus Intervention in der Aufklärung in jeder Hinsicht von großer Bedeutung war, denn „(...) le XVIIIè siècle aurait été sans contrepoids le siècle de l’ Encyclopédie, si Jean –Jacques n’ avait pas paru. Avec lui, tous ces sentiments trouvèrent une force d’ élan, d’ expansion et de conquête.“ 597 Aber mit Rousseau haben in dieser Zeit nicht nur die Gefühle eine neue Dimension erhalten, sondern er kann sogar auch als Vorrevolutionär betrachtet werden. Dies formuliert Daxner in ähnlicher Weise wie folgt: „Ich denke, dass die Gesellschaftsform, die im Mittelstück des Emil im Glaubensbekenntnis des Vikars, aber auch in der Erziehungspraxis des Emil anklingt, idealisierte bürgerliche Gesellschaft einschließlich der Forderung und der Erkenntnis, dass sie eigentlich nur revolutionär zu verwirklichen sei, beinhaltet.“ 598
591 Locke, J. (1970), S. 27f
592 Rousseau, J. – J. (1971), S. 116
593 s. auch Punkt 3.5 „Medizin“
594 Kreimendahl, L. (2000), S. 104
595 Ebd., S. 106
596 s. auch Punkt 3.2.3.2 „Voltaire“
597 Masson, P. – M. (1970), S. 6
„Emil“ ist zunächst als ein philosophisches Buch zu betrachten. Die Philosophie von Rousseau kann als eine pädagogische Philosophie betrachtet werden, denn sie lässt sich nicht nur mit Metaphysik verbinden, sondern das Buch „Emil oder über die Erziehung“ stößt auch bei Philosophen u.a. deshalb auf Interesse, „(...) weil es am Ende eine Zusammenfassung des Contrat Social gibt und vor allem, einen Teil über die Religion.“ 599 Aus diesem Grund muss man „Emil“ also in ein umfassenderes System der Philosophie neu einordnen. Dabei wird „(...) das pädagogische System an das philosophische aufgehängt (...), denn dessen Zentrum ist die `Profession de Foi´ [ein Glaubensbekenntnis.]“ 600
In medizinischer Hinsicht muss nach Rousseau keine besondere Rücksicht auf das Kind genommen werden, obwohl es das schwächste Glied ist. Die zeitgenössische Medizin ist insofern jedoch als Einflussfaktor auf Rousseaus Entwicklungstheorie zu betrachten, als dass er sich bewusst von ihr distanziert und z.B. traditionelle Methoden wie das Wickeln und Schnüren von Babys kategorisch ablehnt. Um dem Kind gerecht zu werden, sollte man ansonsten nur naturgemäß handeln. 601 Trotzdem hat sich die medizinische Theoriebildung „(...) im Verlauf ihrer Entwicklung mit Kindern nahezu ausnahmslos unter der besonderen Voraussetzung beschäftigt, dass das Kind ein Wesen ist, das keine Antwort gibt.“ 602 Obwohl Kleinkinder nicht über die Möglichkeiten der „klaren“ gesprochenen Sprache wie Erwachsene verfügen, besitzen sie doch vielfältige Ausdrucksweisen, sodass Kinder nicht im Sinne des infans (nicht sprechend) gesehen werden sollten. Doch auch heute noch werden Kinder in der Medizin oft nicht genug wahrgenommen, deshalb sieht Schipperges die Medizin von morgen durch ein „(...) Sicheinstellen auf präventive Maßnahmen und eine größere Selbsthilfe der Laien charakterisiert (...).“ 603 Dies ist aus menschlicher Sicht verständlich, denn viele Patienten haben das Vertrauen in Ärzte aufgrund ihrer Inkompetenz verloren. Hinsichtlich der Medizin von morgen formuliert er außerdem seine These wie folgt: „Die Medizin als Ganzes wird nicht länger von Ärzten und Apothekern allein getragen, sondern auch von klinischen Psychologen, technischen Diensten, von Sozialarbeitern und einem weitverzweigten medizinischen Management, das eine Unter- oder Überversorgung zu steuern in der Lage sein wird.“ 604
598 Daxner, M. (1983), S. 6
599 Hansmann, O. (1996), S. 121
600 Ebd., S. 121
601 s. auch Punkt 2.1.6 „Natürlichkeit als Erziehungsnorm“
602 Seidler, E. (1984), S. 109
603 Schipperges, H. (1990), S. 339
Wo die Medizin und andere Wissenschaften vielleicht versagt haben, präsentiert sich die Pädagogik als Wissenschaft, die über Möglichkeiten verfügt, Signale der Kinder und der Menschen im allgemeinen wahr- und aufzunehmen. Außerdem kann sie den Menschen im Laufe ihres Lebens verschiedene Wege aufzeigen, damit diese nicht nur momentan glücklich, sondern auch langfristig zufrieden leben und sich zurechtfinden können. Da die Pädagogik wiederum kein Patentrezept besitzt und niemals besitzen wird, setzt sie in dem Moment ein, wo sich eine Möglichkeit dazu bietet. D.h., dass schon die Entwicklung des Kindes durch die Erziehung unterstützt werden kann. Es soll sich dadurch von seinen Schwächen verabschieden und Stärke erwerben. Rousseau erteilt uns eine relevante pädagogische Lektion, indem er sagt: „Il faut toujours se faire entendre; mais il ne faut pas toujours tout dire; celui qui dit tout dit peu de choses, car à la fin on ne l´écoute plus´ (iv.541)“ 605 Das Ziel einer „guten“ Erziehung ist es, – wie Rousseau bereits betont – die Natur selbst, d.h. nicht nur den Erzieher überflüssig zu machen, sondern auch dadurch den wahren Menschen zu bilden.
Jean – Jacques Rousseau postuliert diesbezüglich, dass Erziehung und Lernen mit den Sinnen beginnt. 606 Aufgrund der noch nicht ausgebildeten Einbildungskraft und des anfangs noch fehlenden Gedächtnisses kann das Kind nur „(...) auf seine unmittelbaren Sinneseindrücke“ achten. 607
Rousseau wollte das Positive, Aufbauende und Bewahrende darlegen, weil die Philosophen sonst nur alles in Zweifel ziehen. Dafür schafft er seine fiktive Figur Emil, um nicht nur seine Erziehungsvorstellungen und sein Erziehungsziel sowie seinen Naturstil zu präsentieren, sondern auch um zu zeigen, dass „(...) ´le monde réel a ses bornes, le monde imaginaire est infini (…), c´est de leur différence que naissent toutes les peines qui nous rendent malheureux`(OC, iv.305).“ 608 Sollten Menschen die Grenzen zwischen Realität und Imagination erkennen und respektieren, so ist mit großer Wahrscheinlichkeit das glückselige Leben auf der Seite des Menschen. Er setzt außerdem seinen Akzent diesbezüglich darauf, dass Kinder keine Erwachsene in Miniatur sind, so wie von vielen gedacht wird. „Die Klügsten bedenken nur, was Erwachsene wissen müssen, aber nicht, was Kinder aufzunehmen imstande sind. Sie suchen immer nur den Mann im Kind, ohne daran zu denken, was er vor seinem Mannsein war.“ 609 Man sollte die Kinder – so wie sie sind – akzeptieren und versuchen sie zu verstehen. Das einzige, was Erwachsene für das Wohl des Kindes tun können, ist, es an seinem Platz zu festigen und eine geeignete Umgebung zu schaffen. 610 Vor allem muss derjenige, der sich mit erzieherischen Fragen beschäftigt, fähig sein, die Perspektiven des Kindes übernehmen zu können. Erwachsene sind enttäuscht von Kindern, weil sie unmögliche Erwartungen an sie haben. Sie verformen Kinder einerseits durch ihre Erziehungs- und Sozialisationsmethoden, andererseits sind sie aber entsetzt über das Resultat ihrer Arbeit. „Ehe es [das Kind] handeln kann, gehorcht es. Und manchmal wird es gestraft, ehe es seine Fehler erkennen, ja sie begehen kann. So weckt man schon früh die Leidenschaften, die man dann der Natur zuschreibt. Nachdem man es verdorben hat, beklagt man sich darüber.“ 611 Es ist zwar wahr, dass Kinder Grenzen brauchen, aber diese sollten von der Natur kommen und nicht von Erwachsenen künstlich gesetzt werden. 612 Wenn die Menschen in der Lage sind, die Perspektive der anderen zu übernehmen, ergeben sich die Grenzen von allein, d.h. auf natürliche Weise.
604 Ebd., S. 339
605 L’Aminot, T. (1999), S. 335
606 s. auch Punkt 2.1.4 „Die Bedeutung der Sinnesschulung“
607 Rousseau, J. – J. (1971), S. 40f
608 L’Aminot, T. (1999), S. 154
Rousseau erkennt nicht nur die Kraft der Sozialisation, sondern betont auch ihre Wichtigkeit, denn in der Realität finden sowohl Erziehungs- als auch Sozialisationsprozesse in der Gesellschaft statt. „Die Gesellschaft hat in ihrer bisherigen Form der Menschheit die tiefsten Wunden geschlagen; aber sie allein ist es auch, die diese Wunden heilen kann und heilen soll.“ 613 In dieser Hinsicht kann Rousseau auch als Sozialrevolutionär betrachtet werden, denn „(...) er war der erste, der mit Klarheit gesehen und auch ausgesprochen hat, dass es eine soziale Frage gibt, die alle Bereiche des menschlichen Lebens durchdringt.“ 614 Seine Ideen sind insofern pädagogisch relevant, als dass politische und gesellschaftliche Probleme von Klassengesellschaft bis Krieg in den Erziehungsmethoden gelöst werden können. Der Mensch kommt mit nichts zur Welt, außer der Fähigkeit grenzenlos zu lernen, d.h. er ist gut in seiner Natur. 615 Es sollte nicht von den Schwächen des Menschen profitiert werden, um ihn nicht von seinem natürlichen Wesen bewusst und frühzeitig abzulenken. D.h. er darf nicht manipuliert werden. Die Erziehung ist dafür da, alle möglichen präventiven Maßnahmen zu treffen, um die Menschen vor jedem Ablenkungsmanöver von Menschen zu schützen. 616 Eine naturgemäße Erziehung „(...) muss verhüten, dass der Mensch in die Irre geht.“ 617 Der Mensch ist – wie bereits erwähnt – in seiner Natur gut. Diese These vertritt Rousseau bereits im Jahre 1750 in der Preisschrift „Discours sur les sciences et les arts“. Seine Auffassung wird von seinen Gegnern stark kritisiert, doch er lässt sich nicht von einer konträren Meinung überzeugen. Er forscht nach, um die „Ursache des Verfalls“ von Menschen herauszufinden und beschäftigt sich vor allem mit der Frage, „(...) wo der Abstieg beginnt“. 618 Das Ergebnis stellt er im Jahre 1753 in der zweiten Preisschrift „Discours sur les origines de l’inégalité“ vor. Die Ursache der sozialen Ungleichheit ist nicht in der Natur zu suchen, sondern hängt eng von der Entwicklung des Eigentums ab, betont Rousseau im seinem zweiten Hauptteil des Diskurs. 619
609 Rousseau, J. – J. (1971), S. 5
610 Vgl. ebd., S. 56
611 Ebd., S. 22
612 Vgl. ebd., S. 70 & auch Punkt 2.1.11 „Sachen statt Worte“
613 Cassirer, E. (1989), S. 39
614 Dietrich, T. (1975), S. 30
615 s. auch Punkt 2.1.1 „Erziehungsziel: Von der Schwäche zur Stärke“
Sich mit Jean – Jacques Rousseau zu beschäftigen, ist keine leichte Aufgabe, denn „(…) c´est endosser une responsabilité énorme, c´est tenter de traduire en langue ordinaire un message extraordinaire que seuls quelques initiés vont peut-être saisir, ces initiés qui communiquent entre eux au moyen des signes et qui possèdent ce ´sixième sens´ sans lequel on ne peut comprendre J. – J. Rousseau.“ 620 Die Intuition allein reicht nicht aus, um ihn „richtig“ zu verstehen. Man muss auch über einen ausgeprägten Sinn der Beobachtung verfügen. Und wenn man sich mit ihm beschäftigen möchte, „(…) `il faut vérifier, comparer, approfondir tout par soi-même, ou s’abstenir de juger´, dit - il dans les Dialogues (i.910).“ 621 Es ist schließlich unmöglich, Rousseau durch psychologische Analyse „richtig“ zu verstehen, denn „(…) Die Pädagogik des JEAN – JACQUES ROUSSEAU (1712 – 1778) (sic), wie sie aus seinem pädagogischen Hauptwerk „Emile oder über die Erziehung“ (1762) herausgelesen werden kann, ist die erste große pädagogische Demonstration des neuzeitlichen subjektivistischen Menschenverständnisses.“ 622
616 Vgl. mit staatlichen Erziehungsmethoden totalitärer Systeme
617 Dietrich, T. (1975), S. 33
618 Ebd., S. 33
619 Vgl. Hansmann, O. (1996), S. 65
620 L’Aminot, T. (1999), S. 330
621 Ebd., S. 330
622 Ballauf, T. & Schaller, K. (1970), S. 326
6. Literaturverzeichnis
Grandlstraße 6 81247 München Tel. & Fax: 089/89198697 Mobiltelefon: 0177/2577208 E-Mail: mupungu.kathola@stud.uni- muenchen.de |
Alain Mupungu Gyshiwu Kathola
Persönliche Angaben: |
• Geburtsdatum: 23.06.1967 • Geburtsort: Kinshasa • Staatsangehörigkeit: deutsch, seit Oktober 2001 • Familienstand: verheiratet
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Ausbildung in der BRD |
seit 01.04.1998 LMU München • MA Pädagogik mit den Nebenfächern Soziologie und Psychologie • Zwischenprüfung mit Note 2,07 im Wintersemester 1999/2000
01.01.1996 – 03.11.1997 Studienkolleg der FU Berlin • Berechtigung zur Aufnahme eines Studiums an deutschen Hochschulen
01.09.1994 – 30.04.1995 Deutschintensivsprachkurs BZ Murnau |
Berufserfahrung |
1989 – 1992 E.P.I Ango – Ango (Grundschule) Kinshasa /Zaire Lehrer • Unterricht in allen Grundschulfächern (Französisch, Arithmetik, Geschichte, Geographie, Musik, Sport, Werken , Nationalsprache: Lingala) von der 1. bis zur 6. Klasse • Betreuung der Praktikanten an der Schule • Stellvertretung des Schulleiters
1988 – 1989 E.P. 6 Kinshasa (Grundschule) Kinshasa/Zaire Lehrer • Unterricht in allen Grundschulfächern wie oben beschrieben |
Ausbildung |
1980 – 1987 Institut Pédagogique Bikuku Kinshasa/Zaire • Staatliches Diplom der Sekundarstufe II in Langform in Pädagogik • Besondere Schwerpunkte auf Methodik und Didaktik im Grundschulunterricht
1973 – 1980 E.P. 2 Lemba (Grundschule) Kinshasa/Zaire • Zertifikatsabschluss |
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Pädagogische Tätigkeiten |
seit 02.05.2000 • Tutor an der LMU München am Institut für Pädagogik I
seit 01.02.2000 • Betreuung von Jugendlichen im Rahmen eines interkulturellen Trainingskurses vom IB – Jugendgemeinschaftswerk
01.11. 1993 – 30.08.1994 •Mitarbeiter der Camphill Dorfgemeinschaft Lehenhof mit Behinderten in Deggenhausertal am Bodensee
31.07.1994 – 15.08.1994 • Gruppenleiter eines internationalen Jugendlagers in Biedenkopf bei Marburg von pro international
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Sprachkenntnisse |
• sehr gute Deutschkenntnisse in Wort und Schrift • Französisch als zweite Muttersprache • gute Englischkenntnisse • Volkssprachen: Lingala, Kikongo und Kimbala |
München, den 28.09.2002
(Alain M.G. Kathola)
Erklärung
Hiermit erkläre ich, Alain Mupungu Gyshiwu Kathola, dass die vorgelegte Arbeit von mir selbstständig und ohne fremde Hilfe angefertigt wurde. Es wurden keine anderen Hilfsmittel zu diesem Zweck benutzt, als die, die in der Literaturliste angegeben worden sind.
München, den 25.09.2002
(Alain M.G. Kathola)