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Otto Friedrich Bollnow
Rousseau im Überblick *
Mit einem Exkurs über die Strafe bei Rousseau
Lebensdaten
Geb. 1712 in Genf, gest. 1770 in Erméonville (Frankreich)
1750 Discours sur les sciences et les arts sur la question proposée par l'academie de Dijon
(Si le rétablissement des sciences et des arts a contribué à épurer les moeurs)
1754 Discours sur l'origine et les fondements de l'inégalité parmis les hommes
1755 De l'économie politique (in der Enzyklopädie)
1762 Contrat social
1761 Julie ou la nouvelle Héloïse
1762 Émile ou sur l'éducation
darin im 4. Buch: Glaubensbekenntnisse des savoyischen Vicars
(1781) Confessions
Mit der Behandlung Salzmanns und Campes haben wir die Darstellung der Philanthropen been-
det und machen wieder einen ganz großen Sprung mit dem Übergang zu Pestalozzi. Dieser
Sprung ist jetzt aber nicht zeitlicher Natur. Pestalozzi ist sogar ein genauer Zeitgenosse von
Salzmann (der nur zwei Jahre älter ist) und Campe (mit dem er im selben Jahr geboren ist). Aber
trotzdem liegt zwischen ihnen die Grenzlinie zweier Welten. Salzmann und. Campe waren Aus-
läufer einer zu Ende gehenden Zeit. Pestalozzi steht am Anfang einer neuen Zeit, die in der Dich-
tung mit dem Sturm und Drang einsetzte und die dann mit der Zeit der Klassik und des Deut-
schen Idealismus den Höhepunkt unsres deutschen Geisteslebens überhaupt darstellt.
Aber an dieser Stelle müssen wir noch einmal einen kurzen Rückblick machen. Wir behandeln in
diesem Semester nur die Geschichte der Pädagogik, soweit sie Deutschland angeht. Aber wir
müssen zuvor doch noch einen kurzen Blick ins Ausland werfen, weil an dieser Stelle entschei-
dende Einflüsse auch auf die deutsche Entwicklung zu verzeichnen sind. Wenn wir in diesem
Semester auch nicht mehr gründlicher auf John Locke eingehen 1 , so beschäftigt dieser uns nun
vor allem als Anreger des bedeutenden französischen Pädagogen, Rousseaus,. der jetzt von ent-
scheidenden Einfluß auf die deutsche Entwicklung gewesen ist. Auch auf Kant ist Rousseau von
entscheidendem Einfluß gewesen. „Rousseau hat mich zurechtgebracht“. Wir müssen in diesem
Semester auf die Behandlung Rousseaus verzichten, nur grade auf die wichtigsten Punkte auf-
merksam machen.
* Einen Überblick über die neuere Literatur gibt Ilse Dahmer: Das Phänomen Rousseau. Zur neuen deutschsprachien
Roussequ-Literatur; in: Zeitschrift für Pädagogik, 6. Jg. 1960, H. 4, S. 362-381; 7. Jg. 1961, H. 1, S. 31-41; H. 2, S.
152-171 und H. 4, S. 366-389 (vgl. insbesondere die Besprechung von Martin Rang, Rousseaus Lehre vom Men-
schen, S. 370 ff..) . Vgl. auch Robert Spaemann, Rousseaus Émile“: Traktat über Erziehung oder Träume eines Vi-
sionärs? in: Zeitschrift für Pädagogik 24. Jg. 1978, S. 823 ff., den Aufsatz von von Iring Fetscher im 26. Beiheft der
Zeitschrift für Pädagogik (1991) und meine Darstellung „Erziehung als Konfliktfeld. Zum Ausgangspunkt des Er-
ziehungsdenkens von J. J. Rousseau“;.in: Die Schulwarte, 24. Jg. 1971, H. 3/4, S. 37-50..
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Vgl. dazu oben die Darstellung John Lockes. Ein in der jetzigen Vorlesung dazu geschriebenes, kurzes Zwischen-
stück ist von Bollnow wieder herausgestrichen worden.
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Rousseau ist geboren 1712, also ein gutes Menschenalter vor den zuletzt behandelten Philan-
thropen und noch als älterer Zeitgenosse von. Kant, Lessing, Basedow, selbst also noch ganz in
der Welt der Aufklärung. Aber er vollzieht in dieser Welt als erster eine Wendung, die dann
nachher von weittragender Bedeutung gewesen ist und in wichtigen Punkten die Entwicklung
des ausgehenden 18. Jahrhunderts vorweggenommen hat. Am besten gehen wir von seiner ersten
Schrift aus, dem 1750 erschienenen Discours sur les sciences et les arts“. Diese Abhandlung war
die Beantwortung einer von der Akademie von Dijon gestellten Preisaufgabe: Ob die Erneuerung
(Wiederherstellung) der Wissenschaften und der Künste (in der Renaissance nämlich) zur Reini-
gung der Sitten beigetragen habe. Diese Frage war natürlich im positiven Sinn gestellt: die große
Leistung der Wissenschaften und Künste zur Hebung des Menschen zu begründen. Die Kultur
hat den Menschen besser gemacht. Das war die selbstverständliche Anschauung. Ich erinnere zur
Verdeutlichung noch einmal an das Doppelbild bei Basedow, wo dem wilden Naturzustand der
gesittete Kulturzustand entgegengestellt war. Und jetzt die entscheidende Wendung bei Rous-
seau, sein wirklich genialer Gedanke: die Kultur hat den Menschen nicht besser gemacht, sie hat
ihn schlechte gemacht. Der Aufstieg der geistigen Kultur bedeutet die Verderbnis des ursprüng-
lichen Glücks und der ursprünglichen Sittlichkeit des Menschen. Man muß diese ganze Bewe-
gung natürlich verstehen vor der Verfeinerung und Überfeinerung der Rokokokultur des 18.
Jahrhunderts mit ihrem Luxus und ihrem Raffinement. Und demgegenüber jetzt Rousseau: nein,
nicht in dieser überkultivierten Welt, sondern in den einfachen Verhältnissen, bei einem einfa-
chen ländlichen Leben, selbst unter dürftigen und ärmlichen Daseinsbedingungen, aber in der
Nähe der Natur: da ist ein wirkliches sittliches Leben möglich, und da können die Menschen
glücklich werden. Daher der Ruf: zurück zur Natur! Das ist der entscheidende Einsatz bei Rous-
seau. (handschriftlich: Robinson!).
Was jetzt die Natur ist, zu der Rousseau zurückwill, ist im einzelnen nicht ganz so eindeutig. Er
meint nicht gradezu, daß die Menschen in die Wälder sollen, um als Affen auf den Bäumen zu
leben, sondern er meint mit der Natur den naturgemäßen, d. h. vernünftigen Zustand, aber dieser
naturgemäße Zustand, in dem alles Erkünstelte und Verdorbene ausgeschaltet ist, ist dann doch
wieder ein idyllischer Zustand, wo das menschliche Leben in letzter Einfachheit und mit unver-
dorbenem Gemüt abläuft. Hiermit ist zum ersten Mal der Ruf der Kulturkritik hörbar geworden.
Natur und Zivilisation stehen als Gegensatz gegenüber, der gleichbedeutend ist mit dem Gegen-
satz von Echtheit und Verdorbenheit. Dieser Ruf ist dann zu den verschiedensten Zeiten wieder
aufgenommen worden: vom Sturm und Drang, von der Kulturkritik des Zeit Nietzsches und La-
gardes, von der Jugendbewegung.
In diesem Ansatz lag jetzt aber ein wesentlich verändertes Verständnis des Menschen. Wenn der
Mensch zu den ursprünglichen Zuständen zurückkehren soll, so lag darin enthalten, daß der
Mensch von Natur aus gut ist, daß wenn wir allen Einfluß durch die umgebende Kultur von ihm.
abtun, ihn rein auf sein eignes ursprüngliches Wesen zurückführen: daß dieses dann gut ist. Das
ist eine entscheidende Revolution, die wir uns gar nicht groß genug denken können, denn sie
richtete sich gegen ein Lebensgefühl, das von den christlichen Anfängen her durch Jahrhunderte
hindurch das abendländische Verständnis des Menschen bestimmt hatte. Christlich hieß es: Das
Dichten und Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf. Der Mensch ist von
Natur böse, und erst durch eine radikale Umwendung, durch die Bekehrung, kann er sich zum
Guten erheben. Die natürliche Veranlagung aber, mit ihren Trieben und Leidenschaften ist böse.
Und jetzt Rousseau: nein, im vollen Gegenteil Erst durch die Kultur sind die Triebe verdorben
worden, von Natur aus aber sind sie gut.
Und dieser Ansatz bestimmt dann seine Erziehungstheorie, wie er sie im Émile entwickelt.
So beginnt gleich der „Emil“ mit den. berühmt gewordenen Worten: „ Alles ist gut, wenn es aus
den Händen des Schöpfers hervorgeht, alles entartet unter den Händen des Menschen.
Er zwingt ein Land, die Produkte eines andern hervorzubringen, einen Baum, die Früchte eines
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andern zu tragen, er vermischt und vermengt die Klimata, die Elemente, die Jahreszeiten, er ver-
stümmelt seinen Hund, sein Pferd, seinen Sklaven, er stürzt alles um, er verunstaltet alles, er
liebt das Unförmige, die Mißgestalten, nichts will er so, wie es die Natur, gebildet hat, nicht
einmal den Menschen, man muß ihn wie ein Schulpferd für ihn abrichten, man muß ihn wie ei-
nen Baum seines Gartens nach der Mode des Tages biegen“.
Und auf diesem Boden wird jetzt eine Erziehung entwickelt, die das Kind aus den Einflüssen der
Kultur herausnimmt, es mit seinem Hofmeister in ländlichen Verhältnissen isoliert und hier jetzt
eine Entwicklung sich. vollziehen läßt, bei der allein die natürliche Entwicklung des Menschen
bestimmend ist, alle Erziehung nur als Regulierung und Leitung dieser natürlichen Entwicklung
gemeint ist.
Diese Erziehung können wir hier nicht verfolgen. Sie hat in Deutschland einen ungeheuren Ein-
fluß gehabt. Kant soll ihretwegen das einzige Mal seinen regelmäßigen Spaziergang versäumt
haben. Auch auf die Philanthropen hat er eingewirkt, aber doch in so veränderter Form, so um-
gebogen in die Bedürfnisse der Aufklärung, daß wir ihn bis jetzt zurückschieben konnten. Erst
auf die neue Generation, die des Sturm und Drang hatte er jetzt einen wirklich entscheidenden
Einfluß.
Trotzdem wäre es aber verkehrt, in Rousseau einen gewissermaßen unzeitgemäß vorwegge-
nommenen Sturm und Drang zu sehen. Er bleibt Kind der Aufklärung. Seine Natur ist ganz von
der Vernunft der Aufklärung bestimmt. Im Verhältnis zu den Leidenschaften etwa, in der Theo-
rie der Strafe, alles bleibt auf dem vernünftigen Boden der Aufklärung und begegnet sich mit de-
ren Willen zur Idylle, wie wir sie aus der Schäferpoesie und den Gartenpavillons dieser Zeit ken-
nen. In diesem Rahmen steht Rousseau, wenn auch dann in ihm die große vorwärts führende
Bewegung beginnt.
(Neueres Stück)
Ich verzichte hier darauf, ein durchgeführtes Bild der Rousseauschen Pädagogik zu geben. Wir
haben hier eine umfangreiche Literatur. Wir erleben in den letzten Jahren gradezu eine Rous-
seau-Renaissance, zu der auch wir Tübinger mit den Arbeiten von Fetscher 2 und Orias-Medina 3
unsern Beitrag geliefert haben. Pädagogisch verweise ich vor allem auf das Buch von Martin
Rang 4 und den ausführlichen Literaturbericht 5 , der vor etwa zwei Jahren in der Zeitschrift für
Pädagogik erschienen ist. Ich hebe hier nur, ohne sehr auf die geordnete Reihenfolge zu achten,
einige Punkte hervor, die mir für die Auswirkung Rousseaus wichtig erscheinen.
Das eine ist die unmittelbare pädagogische Konsequenz des Satzes, daß der Mensch von Natur
aus gut ist. Sie wird dann von Rousseau selber so formuliert:
„Stellen wir als unbestreitbare Maxime auf, daß die ersten natürlichen Triebe stets gut sind; es
gibt im menschlichen Herzen keine angeborene Verderbtheit; kein einziger Fehler findet sich
darin, von dem sich (nicht) nachweisen ließe, wann und wo er in dasselbe eingedrungen ist“ (S.
131).
Das heilt dann, wie Fröbel es aufgenommen hat, daß alle Fehler erst im Verlauf des Lebens in
den Menschen eingedrungen sind. Und wenn man feststellt, wie sie in den Menschen eingedrun-
gen sind, dann haben wir auch pädagogisch die Möglichkeit, ihr Eindringen zu verhindern. Wir
müssen nur die entsprechenden Situationen vom Kinde fernhalten.
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Dabei gilt allgemein der von Rousseau. herausgehobene Grundsatz: „Die erste Hegel ist, die Na-
tur zu beobachten und dem Wege zu folgen, den sie vorzeichnet“ (36).
Das steht in Übereinstimmung mit dem alten Comeniusschen Grundsatz, erhält nur einen andern
Akzent infolge des inzwischen veränderten Naturbegriffs. Die Natur ist jetzt, was sich von innen
heraus von selbst entwickelt. Die Erziehung soll nicht eingreifen und nichts „machen“, sie soll
vor allem der Natur ihren natürlichen Verlauf lassen. Und so entspringt bei Rousseau dann der
Gedanke einer negativen Erziehung. So fragt Rousseau: „Was haben wir nun zu tun, um diesen
ausgezeichneten Menschen zu bilden? Unzweifelhaft viel, nämlich zu verhüten, daß etwas ge-
schieht“ (22). (andre Formulierungen? )
Das ist der Gedanke, der dann von der deutschen klassischen Pädagogik mit Nachdruck aufge-
nommen ist. Die Entwicklung des Menschen erfolgt nach einem natürlichen Wachstum, nach ei-
nem inneren Gesetz von selber. Man darf sie nicht stören. Das, was dar Erzieher tun kann, ist le-
diglich, „zu verhüten, daß etwas geschieht“, d. h. daß keine störenden Einflüsse diese Entwick-
lung verderben. Das ist der grundsätzliche Gedanke, wie er seitdem für die gesamte Entwicklung
wichtig geworden ist: Erziehen ist kein „machen“, sondern ein „wachsen-lassen“. Ich erinnere
noch an Litts Buch „Führen oder Wachsenlassen?“
Dabei stoßen wir auch auf den einen Gegensatz, der uns schon bei Kant unter Bezugnahme auf
Rousseau begegnet war, den Gegensatz zwischen Mensch und Bürger: „Gezwungen, die Natur
oder die sozialen Einrichtungen zu bekämpfen, hat man sich zu entscheiden, ob man einen Men-
schen oder einen Bürger bilden will, Denn beides kann man nicht zugleich tun.... Der natürliche
Mensch ist ein Ganzes für sich ... der bürgerliche Mensch ist nur eine gebrochene Einheit, wel-
ches es mit ihrem Nenner hält und deren Wert in ihrer Beziehung zu dem Ganzen liegt, welches
den sozialen Körper bildet“(18/19).
Und endlich ein letzter Gedanke, der mir besonders wichtig erscheint, das ist die Entdeckung
vom Eigenwert des Kindes: „Die Menschheit hat ihren Platz in der Ordnung der Dinge, die
Kindheit hat wieder den ihrigen in der Ordnung des menschlichen Lebens. Man muß den Mann
im Manne und im Kinde das Kind betrachten“(l03), d. h. beides in ihrem Eigenwert und ihrer
Eigenart erkennen und behandeln. Deshalb soll man die Kinder nicht um den Genuß ihrer Kind-
heit bringen, indem man sie mit Anforderungen belastet, die erst einem späteren Alter angemes-
sen sind:
„Weshalb wollt ihr diese kleinen Unschuldigen um den Genuß einer Zeit, die so flüchtig ist, und
eines so kostbaren Gutes, das sie nicht mißbrauchen können, bringen?“(l02).
Das bedeutet: man soll in der Gegenwart leben und nicht die Gegenwart einer späteren Zukunft
willen aufopfern: „Was soll man also von der jetzigen barbarischen Erziehung denken, welche
die Gegenwart einer ungewissen Zukunft opfert, die einem Kind allerlei Fesseln anlegt und es
gleich vom ersten Augenblick an unglücklich macht, um ihm in weiter Ferne ich weiß nicht was
für ein vermeintliches Glück zu bereiten, das es vermutlich nie genießen wird“ (101). Er wendet
sich mit Entschiedenheit dagegen, daß man „die Gegenwart beständig für nichts achtet und unab-
lässig einer Zukunft nachjagt, die bei jedem Fortschritt, den wir machen, nur desto weiter vor
uns flieht“(l02).
Nur wenn man die Gegenwart ganz in sich selber erfüllt, nur wenn man das Kind ganz Kind sein
läßt und es nicht vorzeitig zum Erwachsenen formen will, kann sich die Entwicklung nach ihrem
eignen Gesetz vollziehen.
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Exkurs über die Strafe bei Rousseau 6
Die Strafe stellt eine der schwierigsten und verwickeltsten Fragen der Erziehung dar. Deshalb ist
es notwendig, ehe wir auf die besondere Strafanschauung Pestalozzis eingehen, einen ganz kur-
zen Rückblick auf den allgemeinen Hintergrund zu werfen, vor dem sich Pestalozzis Anschau-
ung abhebt.
Das Problem der Strafe ist zunächst noch gar keine eigentlich pädagogische Angelegenheit, son-
dern eher der Rechtsprechung. Seine Notwendigkeit ergibt sich schon aus den allereinfachsten
Formen menschlichen Rechtsbewußtseins. Ich versuche, in einem schematischen Überblick die
einfachsten Stufen auseinanderzuhalten:
1. Die Strafe als Wiedergutmachung eines angerichteten Schadens. Wer fremdes Eigentum be-
schädigt hat oder fremden Besitz an sich gebracht hat usw. - der muß den dadurch angerichteten
Schaden dem Geschädigten ausrichten und also den Zustand vor seiner Tat wiederherstellen. Das
ist die einfachsten und auch heute noch weitgehend gültige form. Dabei wird hier die Tat noch
gar nicht eigentlich als Unrecht aufgefaßt, zwischen Versehen und böser Absicht wird noch gar
nicht unterschieden. Es ist einfache Beseitigung des angerichteten Schadens.
Das geht aber ohne scharfe Grenze in die zweite Form über:
2. Die Strafe ist Vergeltung eines angetanen Unrechts: Der klassische Ausdruck ist das alttesta-
mentliche: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Eine körperliche Schädigung z. B. kann nicht einfach
durch ihre Aufhebung wiedergutgemacht werden, und hier setzt dann der Trieb nach Rache als
eine quelle der Strafe ein: Der Geschädigte hat Recht, seinem Schädiger genau denselben Scha-
den anzutun, wie dieser ihn angetan hat, und damit ist des Gleichgewicht dann wiederhergestellt.
Auch diese Form ist tief im ursprünglichen, fast schon instinktiv gewordenen Rechtsbewußtsein
des Volks enthalten.
Diese Grundform ändert sich nicht, wenn sich die Erscheinungsweise auch in den verschiedenen
Kulturformen auch ändert:
a. Die genau der Tat gleiche Buße kann durch eine Geld- oder andre Strafe ausgeglichen werden,
vor allem
b. .unstelle der Racheaktion des Geschädigten tritt der Staat und verhängt von sich aus die Strafe,
wobei dann vor allem die Gefangenschaft als neue Form hinzutritt. Auch hier ist der Staat nur
der Vollstrecker der Vergeltung, der Grundgedanke ist aber ein ganz andrer. Der Grundgedanke:
Strafe ist geregelte Rache.
Eine ganz andre Anschauung setzt sich aber ein, wo jetzt z. B. die Verantwortung des Täters aus
irgend einem Grunde zweifelhaft wird. Da tritt ein Gedanke rein hervor, der schon in den ersten
Anfängen als Teil enthalten war.
3. Die Strafe ist eine Sicherheitsmaßnahme der Gemeinschaft, die sich dadurch vor der Schädi-
gung durch asoziale Elemente schützt. Die Hauptformen sind Todes- und mehr noch Haftstrafe.
Die reinste Form wohl jetzt die Sicherheitsverwahrung, die gar nicht für ein bestimmtes Verbre-
chen ausgesprochen wird, sondern für das von dem Betreffenden als wahrscheinlich zu erwar-
tende Verbrechen. Wir sehen hier schon eine abgeleitetere Form: nicht mehr die unmittelbare
Vergeltung» sondern der Schutz der Gemeinschaft.
Nehmen wir alle diese drei Formen zusammen: mit Erziehung haben sie alle drei nichts zu tun,
und von hier aus verstehen wir den ersten wesentlichen Einsatz zum. Strafproblem, den wir
Rousseau verdanken.
Wir benutzen die Gelegenheit, gleich einen der bezeichnendsten Punkte der Rousseauschen Päd-
6 Als Literatur dazu gibt Bollnow an: Herman Nohl, Das pädagogische Problem. der Strafe.
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agogik nachzuholen. Der Grundgedanke des Roussequ: daß der Mensch von Natur aus gut sei,
zwang natürlich zu einer Revision der Vorstellungen vom Nutzen und der Berechtigung der Stra-
fe: Wenn der Mensch von Natur aus gut ist, dann entstehen die Handlungen, die man im ge-
wöhnlichen Leben als strafwürdig versteht, nicht aus böser Absicht, sondern aus Unwissenheit
und Irrtum, und sind daher auch gar nicht derart, daß eine Strafe berechtigt sei. Das fuhrt also
Rousseau zu einer grundsätzlichen Ablehnung der Strafe.
Auf der andern Seite ergeben sich in der praktischen .Erziehung immer wieder zwangsläufig La-
gen, in denen so etwas wie Strafe erforderlich ist, wenn Kinder etwa etwas getan haben, was ih-
nen verboten ist und. was ihnen auf keine andre Weise abgewöhnt werden kann. Eine Maßnahme
ist hier erforderlich, aber auf der andern Seite soll diese Maßnahme der kränkende Charakter der
Strafe fehlen, durch welche die begangene Tat zum Bösen gestempelt wird. Und hier hilft sich
Rousseau, indem er dem Kind die Folgen seiner Handlung drastisch vor Augen führt und ihm so
klar macht, wohin seine Handlungsweise führen würde. In diesem Sinn betont Rousseau, „daß
man über die Kinder keine Strafe als solche verhängen soll, sondern daß dieselbe sie stets als ei-
ne Folge ihrer bösen Handlungen ereilen müsse“ (R 150).
Rousseau entwickelt es ausführlich an einem Beispiel: wenn das Kind ein Fenster zerbrochen
hat: „Euer eigensinniges Kind verdirbt alles, was es berührt. Werdet darüber nicht böse, sondern
entfernt alles aus seiner Umgebung, was es verderben könnte. Zerbricht es die Geräte, deren es
sich stets bedient, so beeilt euch nicht, ihm andere anzuschaffen, sondern laßt es die nachteiligen
folgen des Entbehrens fühlen.
Zerbricht es die Fenster seines Zimmers, so laßt es Tag und Nacht ruhig vom Wind umwehen,
ohne danach zu fragen, daß es sich dadurch vielleicht den Schnupfen zuzieht, denn es ist besser,
daß es den Schnupfen bekommt, als daß es ein Narr bleibt.
Beklagt euch nie über die Unbequemlichkeiten, die es euch verursacht, sorgt aber dafür, daß es
diese zuerst empfindet. Endlich laßt, ohne das geringste Wort darüber zu. äußern, die Scheiben -
wieder einsetzen.
Zerschlägt es sie jedoch abermals, so ändert sofort die Methode. Sagt ihm ganz trocken, aber oh-
ne jede zornige Aufwallung: Die Fenster gehören mir, auf meine Kosten sind sie eingesetzt wor-
den, ich werde sie vor künftiger Beschädigung schützen. Sperrt es darauf in eine dunkle,
fensterlose Kammer ein.
Bei diesem gänzlich neuen Verfahren beginnt es zu schreien und zu lärmen. Niemand achtet dar-
auf. Bald wird es dessen überdrüssig und schlagt einen andern Ton an, es klagt und seufzt....
Endlich, nachdem das Kind einige Stunden darin zugebracht hat ... bringt es jemand auf den Ge-
danken, euch. einen Vergleich vorzuschlagen, laut welchem ihr es wieder in Freiheit setzt und es
hinfort keine Scheiben mehr zerbrechen darf. Es wird nichts Besseres verlangen ... und ihr nehmt
diesen Vorschlag augenblicklich an“ (R 147 f.).
Der Sache nach ist es natürlich auch eine Strafe, aber der wesentliche Unterschied: Die Straf«
wird nicht von der juristischen Seite her gesehen, sondern von der pädagogischen Seite her. Es
kommt darauf an, mit Hilfe dieser Strafe eine ganz bestirnte erzieherische Wirkung zu erzielen,
und vie schon aus diesem einfachen Beispiel hervorgeht, ist die Durchführung einer erzieherisch
sinnvollen Strafe oft eine ungeheuer mühsame und verwickelte Angelegenheit.
Genauer genommen, sind in dem Beispiel zwei verschiedene .Möglichkeiten, die auch etwas ver-
schieden gelagert sind. Das erste Beispiel: infolge der zerbrochenen Scheiben hat das Kind die
Folgen auf sich zu nehmen, die in dem schlechten Wetter und dem möglichen Schnupfen beste-
hen. Hier also ist die Strafe die natürliche Folge der Tat, wobei allerdings zu bemerken ist, daß
diese Folge nicht etwa von Natur aus eintritt, sondern der Erzieher hat die Ereignisse so zu ar-
rangieren, daß für das Kind die richtige Folge heraustritt. Das ist überhaupt bei Rousseau ein
wiederkehrender Grundgedanke: der Erzieher hat die Lebensumgebung des Kindes so zu verein-
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fachen und in ihr nötigenfalls so nachzuhelfen, daß das Kind überall ein pädagogisch sinnvolles
Echo auf sein Verhalten vorfindet.
Das andre aber ist die Wiederholung des Verbrechens: Da tritt jetzt ein V'erhalten ein, das auch
überall dort eintritt, wo die Handlung keine unmittelbaren schlechten Folgen hat (z. B. auch
wenn das Kind jemand anderes Scheiben eingeschlagen hat): Das als Sicherheitsmaßnahme ge-
tarnte Einsperren. Es ist an sich eine Sicherheitsmaßnahme, wie wir sie unter 3 beschrieben hat-
ten, aber jetzt nicht eingeführt, um wirklich die Gemeinschaft zu sichern, wes ja gar kein päd-
agogisches Verhalten wäre, sondern als klug erdachte Scheinmaßnahme, um dem Kind das
Recht der Gemeinschaft zum Bewußtsein zu bringen.
Die spezielle Durchführung setzt dann die besonderen Anschauungen Rousseaus vom Gesell-
schaftsleben voraus, nach der unsre Gesellschaftsordnung durch bestimmte Verträge zwischen
den ursprünglich einzeln lebenden Menschen entstanden sei. So ist dann hier der erzieherische
Weg, daß das Kind in grundsätzlichst ähnlichen Verträgen den Aufbau der Gesellschaftsverfas-
sung nachvollzieht und so den Sinn der Gesellschaftsordnung, hier also der Eigentumsordnung
begreifen lernt. Das Kind wird so durch eignes Nachvollziehen in den Sinn der menschlichen -
Eigentumsordnung hineingeführt.
So weit also Rousseau, und wenn wir jetzt von ihm zu Pestalozzi übergehen, so spüren wir sofort
der Gegensatz: Bei Rousseau ist alles klug erdacht, aber letzten Endes doch eben Schreibtischar-
beit, nicht aus der vollen erzieherischen Wirklichkeit hervorgegangen. Es ist viel zu abstrakt, um
vor der unmittelbaren Wirklichkeit standzuhalten, und so spüren wir dann bei Pestalozzi sofort
das unmittelbare Leben der Erziehungswirklichkeit.
Aber trotzdem müssen wir Rousseaus Leistung sehen, auf der auch Pestalozzi einsetzt: die Strafe
bewußt von ihrer pädagogischen Leistung her zu sehen, Das wird bei Pestalozzi dann aufge-
nommen und noch sehr viel weiter gefaßt: das gilt nicht nur dem Kind gegenüber, sondern auch
die juristische Strafe gegenüber dem Rechtsbrecher wird als pädagogische Maßnahme gesehen
und bewußt eingerichtet.