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Askemos und Rousseau

eine philosophisch-kulturgeschichtliche Betrachtung

Dr. sc. theol. Werner Wittenberger

Askemos ist ein autonomes, verteiltes Betriebssystem auf der Basis von Peer to Peer Netzwer-

ken. Askemos definiert eine einfache Architektur: eine virtuelle Maschine auf Dokumentenebene.

Diese virtuelle Maschine hat keine Reprasentation auf einer einzelnen physischen Maschine, viel-

mehr operiert diese Maschine in der ‘Vorstellung’ einer Menge von kollaborierenden Agenten, welche

die virtuelle Maschine zu beobachten scheinen. Um diesen Effekt zu erreichen, berechnen die Agen-

ten die Einzeloperationen der virtuellen Maschine unabhangig von einander (gleichberechtigt) und

stimmen den als wahr verstandenen Zustand untereinander ab.“

1

Mit diesen Worten eroffnet der Autor dieses Betriebssystems, das er Askemos nennt, einen

Vortrag, um eben dieses Betriebssystem weiter vorzustellen. Was hat Rousseau damit zu schaffen?

Jean-Jacques Rousseau (1712—1778) hatte Einfluß auf Kant, Goethe, Schiller, Herder, Frobel

und wer weiß, wem noch. Auf dem Gebiet der technischen Revolution war das grob gesprochen die

Zeit der Erfindung der Dampfmaschine. Nun wollen wir hier allen Ernstes behaupten, ein Philosoph

des fruhen Dampfmaschinenzeitalters habe etwas Erhellendes zu Askemos und also zu Problemen

der Computerwelt beizutragen.

Der philosophische und kulturgeschichtliche Hintergrund verdient, ans Licht gezogen zu werden.

Rousseau liefert ein besonders interessantes Paradigma europaischer Denkweise zu Fragen von

Gesellschaft, Recht und Sicherheit und den Hintergrunden dieser Werte. Aus dem Grunde werden

wir Rousseau auf Askemos hin lesen. Das ist die Methode, die wir hier befolgen.

1 Natur – oder alles, was recht ist

Wir beginnen unsere Lekture mit dem

Emil“.

2

Das erste Buch des

Emil“ beginnt mit den Worten:

Alles ist gut, wie es aus den Handen des Schopfers hervorgeht; alles entartet unter den Handen

des Menschen. Er zwingt ein Land, die Produkte eines anderen hervorzubringen, einen Baum, die

Fruchte eines anderen zu tragen [...] er verstummelt seinen Hund, sein Pferd, seinen Sklaven;

nichts will er so, wie es die Natur gebildet hat, nicht einmal den Menschen...“

3

Nichts ist un-

schmackhafter als Treibhausfruchte. Nur unter großen Kosten bringt es der Reiche in Paris mit

Hilfe seiner Oefen und Glashauser dahin, daß es ihm das ganze Jahr hindurch nicht an schlechtem

Gemuse und schlechtem Obst auf seiner Tafel fehlt. [...] Mitten im Monat Januar seinen Kamin

mit einer der Natur nur gewaltsam abgerungenen Vegetation, mit bleichen geruchlosen Blumen

bedecken, heißt weniger den Winter schmucken, als den Fruhling seines Schmuckes berauben ...“

4

Muß man sich nichtuber die Aktualitat solcher alten Texte wundern?

1

J. F. Wittenberger, “Askemos - a distributed settlement” Proceedings of the International Conference Advances

in Infrastructure for e-Business, e-Education, e-Science, and e-Medicine, L’Auilla 2002, ISBN: 88-85280-63-3; online

http://www.askemos.org

2

J. J. Rousseau, Emil oderUber die Erziehung,ubersetzt von H. Denhardt, Reclam,

Leipzig, 1910 (zuerst 1762)

3

Emil, Bd. 1, S. 13

4

Emil, Bd. 2, S. 304f

1


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Rousseau pladiert dafur, daß die Natur wieder in ihre alten Rechte eintrete.

5

Wo die Natur zu

ihrem Recht kommt, ist dasjenige Recht, was einer Person oder einer Sache gerecht wird. In der

formalisierten Sprache der Technik konnte man sagen: Es sei R das Recht und N Natur, dann gilt:

R ⊂ N. Wir wollen nicht den ganzen

Emil“ in die Sprache der Technikubersetzen, wir wollen nur

sagen, die Beziehung ist vorhanden und zwar in einem Punkt, der auch ein zentraler bei Askemos

ist.

2 Vorurteile, Religion, Vernunftgebrauch

Emil“ ist ein Erziehungsroman und auch ein philosophisches Werk. Hauptperson ist Emil. Er wird

auf dem Land erzogen, fernab von den Einflüssen der Gesellschaft, nicht von seinen Eltern, sondern

von einem Hofmeister.

Das Ziel der Erziehung wird an verschiedenen Stellen wie folgt beschrieben:

Emil ist ein Mensch, nicht wie ihn der Mensch, sondern die Natur erzieht.“

6

Emil ist kein Wilder,

der seinen Aufenthaltsort in den Wusten suchen muß; er ist vielmehr ein Wilder, der bestimmt

ist, in Stadten zu wohnen. In ihnen muß er seines Lebens Notdurft und Nahrung zu finden wissen,

von ihren Einwohnern muß er Nutzen ziehen, und er ist gezwungen, wenn auch nicht wie sie,

doch wenigstens mit ihnen zu leben.“

7

Emil soll wohl als

Naturmensch“ herangebildet werden,

aber nicht zu einem Wilden, den man

in die Tiefe der Walder“ verweist,

sondern es genugt,

daß er sich im gesellschaftlichen Strudel weder durch die Leidenschaften noch durch die Vorurteile

der Menge mit fortreißen laßt, daß er mit eigenen Augen sieht, mit eigenen Herzen fuhlt, daß er

sich unter die Herrschaft keiner Autoritat als unter die seiner Vernunft beugt.“

8

Erziehung zur

Zivilisation ist Erziehung zur zweiten Natur. Daran haben nicht nur die Hofmeister, sondern auch

die Zuchthauser gearbeitet.

9

Natur bestimmt sich bei Rousseau als Gegensatz zu den Vorurteilen der Menschen.

Hauptsachlich auf religiosem Gebiet feiern die Vorurteile ihre Triumphe.“

10

Inwiefern auf reli-

giosem Gebiet die Vorurteile Triumphe feiern, kann Rousseau leicht aufzeigen. Er sagt, ein Turke

konne wohl in Konstantinopel das Christentum ohne weiteres lacherlich machen, aber er moge nur

einmal nach Paris gehen und sich anhoren, was man dort vom Islam halt.

11

Die Vorurteile werden

naturlich nicht durch Sakularisierung aus der Welt geschafft, wie die Geschichte zeigt.

Rousseau versucht nun eine Erklarung der Entstehung der Religion und der Vorurteile, die fur

uns hier von Interesse ist.

Unsere Einwirkungen auf andere Korper hatten uns in den Glauben versetzt, daß die Einwir-

kungen auf uns in gleicherweise, d. h. belebt, stattfanden. Durch die Abhangigkeit von den Dingen

seien die Gotter entstanden. Die primitive Betrachtung der Welt wird freilich von der Entwicklung

des abstrakten Denkens begleitet. In dieser Entwicklung seien die Begriffe

Geist“ und

Materie“

entstanden.

12

Das geschieht infolge der allmahlichen Verallgemeinerung auf die erste Ursache. Die

ganze Kette der Wesen unter einen Begriff gebracht, fuhrt zu dem Begriff der Substanz.

Der Gedanke ist plausibel. Denn die ganze Kette von Wesen auf den Begriff des Nichts gebracht,

ist unsinnig. Es geht nicht darum, ob die Entwicklung tatsachlich so stattgefunden hat und wie

man das belegen will, sondern um Rousseaus heuristisches Prinzip.

5

Emil, Bd. 1, S. 33

6

Bd. 2, S. 100

7

Bd. 1, S. 375

8

Bd. 2, S. 103

9

Zu dem großen Komplex Vgl. Wolfgang Dreßen, Die padagogische Maschine. Zur Geschichte des industriellen

Bewußtseins in Preußen/Deutschland, Frankfurt/M, Berlin, Wien, 1982

10

Emil, S. 114

11

ebenda, S. 114

12

ebenda, S. 105

2


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Rousseau stoßt aber auf neue Schwierigkeiten. Diese sind nicht geringer, als wenn das Denken

mit Gottern fertig werden muß.

Er stellt namlich fest, nachdem er zum Begriff

Substanz“ gekommen sei, ware es notig, der

einen einzigen Substanz unvereinbare Eigenschaften zuzuschreiben, namlich Denken und Umfang

(Ausdehnung). Die eine Eigenschaft sei ihrem Wesen nach teilbar, die andere nicht. Nun begreife

man, daß

Denken“ (oder Empfinden) eine von ihrer Substanz untrennbare Eigenschaft sei. Das-

selbe Verhaltnis bestehe auch zwischen der Eigenschaft

Umfang“ und seiner Substanz. Daraus

folgt,

daß die Wesen, welche eine dieser Eigenschaften verlieren, gleichzeitig auch die Substanz,

zu der sie gehoren, verlieren, daß demnach der Tod lediglich eine Trennung der Substanzen ist,

und daß die Wesen, in denen sich jene beiden Eigenschaften vereinigt vorfinden, aus zwei Substan-

zen zusammengesetzt sind, zu denen die beiden Eigenschaften gehoren.“

13

Die Wesen, die aus der

teilbaren Substanz, Umfang, und aus der unteilbaren Substanz, Denken, zusammengesetzt sind,

konnen bloß die Menschen sein. Wenn aber das Pradikat des Todes ein

lediglich“ zulaßt, konnen

es nicht die realen Menschen sein.

Erstaunlich ist, wohin das abstrakte Denken Rousseau gefuhrt hat. Das abstrakte Denken hat

das Denkbare reduziert bis schließlich der Ernst des Todes problematisch wurde. An spaterer Stelle

wird uns die systematische Verankerung des milden Todes wieder begegnen. Es wird dann heißen:

Wenn die Seele immateriell ist, so vermag sie auch den Korper zuuberleben; und wenn sie ihn

uberlebt, so steht die Vorsehung gerechtfertigt da.“

14

Was ist das anderes als eine virtuelle Welt?

In dieser Welt wird schwer um existentielle Fragen gerungen, ohne Cyberspace gibt es allerdings

auch keine Maschine; das ist nicht erst seit dem Computer der Fall. - Uns genugt es im Augenblick,

das Ziel, die virtuelle Welt, schon in der Ferne zu sehen. Den Weg mussen wir freilich noch gehen,

so wie Rousseau ja die Welt auch wiedergewinnen muß.

3 Der Erzieher als Weltbaumeister

Der Mensch, sagt Rousseau, wird zweimal geboren, das eine Mal zum Dasein, das andere Mal zum

Leben.

15

Diese zweite Geburt findet in der Pubertat statt. Jetzt beginnt die eigentliche Erziehung.

Der Erzieher paßt dem Zogling eine zweite Natur an, so daß der Mensch ein zivilisierter Mensch

wird. Um den Plan entwickeln zu konnen, mussen wir uns auf einen

hoheren Standpunkt verset-

zen“.

16

Im Zentrum des

hoheren Standpunktes“ steht das Bekenntnis des savoyischen Vikars im

vierten Buch des

Emil“. Dieses Bekenntnis mussen wir zur Kenntnis nehmen, um verstehen zu

konnen, welche Welt da gebaut wird.

3.1 Meine erste Erkenntnis

Im Bekenntnis des savoyischen Vikar, entwickelt Rousseau seine Religionsphilosophie. Mit dem

Substanzbegriff ergaben sich Schwierigkeiten fur das Denken.

Also mußte der Vikar ganz von vorne anfangen. Diesen Anfang nahm er bei sich selbst. Er

fragte:

Habe ich ein eigenes Gefuhl meiner Exisenz, oder werde ich mir derselben nur durch

meine Sinneswahrnehmung bewußt.“

17

Er mußte sich antworten: Ich sehe deutlich ein,

daß meine

Empfindung, die in mir ist, und ihre Ursache oder ihr Objekt, das außer mir liegt, nicht ein und

dasselbe ist“.

18

Folglich existiere ich und die Objekte meiner Empfindungen,

und waren diese

Objekte auch nur Vorstellungen“. Alles, was ich außer mir wahrnehme, nenne ich Materie, alle

13

ebenda, S. 106f

14

ebenda, S. 163

15

Vgl. Emil, Bd. 2, S. 3

16

ebenda, S. 6

17

ebenda, S. 134

18

ebenda, S. 135

3


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Teile der Materie, die ich als Einzelwesen (etres individuels) sehe, nenne ich Korper.

Jetzt bin ich

also vom Dasein des Weltalls schon ganz ebenso festuberzeugt, wie von meinem eigenen.“

19

Auf einmal

fuhle ich mich mit einer aktiven Kraft begabt, deren Besitz mir vorher unbekannt

war“.

20

Ich kann Objekte vergleichen, nicht nur wahrnehmen. Solange ich wahrnehme, bin ich

passiv. Bei

der Vergleichung bewege und versetze ich sie gleichsam, lege sie aufeinander, umuber

alle ihre Verhaltnisse meine Ansichtaußern zu konnen.“

21

So entsteht Virtualitat im Rahmen der

Alltagserfahrung, bevor irgendein philosophischer Ansatzuberhaupt gefunden ist.

Vergleichen heißt fur Rousseau Urteilen. Eine Kraft, die vergleicht, ehe sie urteilt, finde sich

nicht in rein sensitiven Wesen. Ein solches passives Wesen empfindet jeden Gegenstand einzeln.

Zwei Gegenstande gleichzeitig sehen, heißt nicht auch sofort ihre gegenseitige Beziehung erken-

nen [...] verschiedene Gegenstande einen hinter dem anderen wahrnehmen, heißt noch nicht: sie

zahlen.“

22

Wenn unsere Urteile nur auf Sinneseindrucken beruhen wurden, wurden wir uns niemals

tauschen. Weil wir aber beim Urteilen aktiv sind und weil die Operationen des Vergleichens man-

gelhaft sind, mischen wir der Wahrheit unsere Irrtumer bei.

23

Hinter die Fahigkeit zum Urteil und

die Moglichkeit des Irrtums kann ich nicht mehr zuruck. Weder Wurde noch Risiko kann ich belie-

big einsetzen, ich muß urteilen und ich kann mich irren. Diplomatisches Schweigen oder viel reden

und nichts sagen, hat ja auf der existentiellen Ebene gar keinen Sinn. Rousseau wird angesichts

dieser Fahigkeit von einer Art Schauer erfaßt. Ich sehe mich hier

in das unermeßliche Weltall

geschleudert und in demselben wie verloren.“ Ich fuhle mich

in dem unerschopflichen Strom der

Wesen wie ertrankt, ohne zu wissen, was sie an sich sind, noch in welcher Beziehung sie zueinander

oder zu mir stehen.“

24

Der metaphysische Schock wird oft in der Frage ausgedruckt: Warum ist etwas und nicht nichts?

Rousseau hat aber begriffen: Das Denken muß mit dem Sein beginnen. Keine Verstandesanalyse

verschafft die Werkzeuge, mit denen das Denken denken kann, wie das Sein ins Sein kommt, wie

das Sein das Nichtsein vertreibt. Das Denken kann das Programm nicht starten, es lauft schon.

Nur verstehe ich die Beziehungen der Wesen noch nicht.

Ich studiere und beobachte sie und

der erste Gegenstand, der sich mir zu einer Vergleichung mit ihnen darbietet, bin ich selbst.“

25

Plotzlich entsteht eine gewisse Ordnung, ein brauchbarer Kosmos in dem furchterlichen Chaos.

Auf die Weise kommt mein Logo, mein Autogramm, meine Unterschrift, mein Fußabdruck in das

Universum, von dem her im Gesellschaftsvertrag sich ein unveraußerliches Recht ableitet. Wenn

ich fernerhin das Universum durchstreife, bis mir ein Weltbild entsteht, tragt alle Erkenntnis mein

Signum. Und so beginnt Emil auch als Agent des System, das sich Askemos nennt, den Aufbau

seiner Computer-Welt, und da diese nicht die ganze Welt ist, ist er naturlich besser dran als das

Original.

3.2 Mein

hoherer Standpunkt“

Der Verstand baut nunmehr nach Rousseaus Lehre seine Welt.

Alles, was ich mit den Sinnen wahrnehme, ist Materie [...] Bald erblicke ich sie in Bewegung

bald in Ruhe[...] Sobald also auf die Materie keine Einwirkung ausgeubt wird, bewegt sie sich

auch nicht, und gerade aus diesem Grunde [...] muß man in der Ruhe ihren naturlichen Zustand

erblicken.“

26

19

ebenda, S. 135

20

ebenda, S. 135

21

ebenda, S. 135

22

ebenda, S. 136

23

vgl. ebenda, S. 137

24

ebenda, S. 138f

25

ebenda, S. 138f

26

ebenda, S. 139

4


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Bei den Korpern seien zwei Arten von Bewegung zu bemerken, mitgeteilte und freiwillige. Die

Bewegung einer Uhr wird man nicht fur eine freiwillige halten, sondern auf den dahinterstehenden

Uhrmacher schließen. Bei den Tieren spricht die Analogie zum Menschen fur freiwillige Bewegung.

Aber woher weiß man,

daß esuberhaupt freiwillige Bewegung gebe“? Rousseau antwortet, er wisse

es aus der unmittelbaren Erfahrung, also vor aller Wissenschaft:

Darauf kann ich nur erwidern, daß

ich es weiß, weil es mir mein Gefuhl sagt.“ Ich bewege meinen Arm - aus freiem Willen.

Umsonst

wurde man den Versuch machen, dies Gefuhl in mir durch Vernunftgrunde zu ertoten; es ist starker

als dieuberzeugendsten Grunde. Es wurde ebenso leicht sein, mich davon zuuberzeugen, daß ich

gar nicht existiere.“

27

So wie das Denken mit dem Sein beginnen muß, ohne das Sein erklaren zu

konnen, so muß das Denken mit der Freiheit beginnen, ohne die Freiheit erklaren zu konnen.

Was der savoyische Vikar zu der Frage nach Materie und Bewegung sagt, mag vor den Schran-

ken der Physik inzwischen naiv sein, seine philosophische Schlußfolgerung laßt sich nach wie vor

schwerlichuberbieten. Gelange der Versuch, die Freiheit zu erklaren, ware sie dahin, wurde mein

Fußabdruck im Universum beseitigt.

Wie kann ich aber meine Freiheit durchhalten, vorerst geistig als Teil des Universums und

spater faktisch als Teilnehmer im Gesellschaftsvertrag? Auf Askemos hin gelesen hieße dies: Wie

kann ich meine Freiheit durchhalten als Agent dieses Betriebssystems?

Zuruck zu Rousseau. Das sichtbare Weltall ist zerstreute, tote Materie. Es fehlt eine Einheit,

jene Organisation der Teile, die belebte Korper aufweisen. Die Welt ist kein großes Tier. Dennoch

ist

dieses namliche Weltall in Bewegung“. Die Bewegungen sind unwandelbaren Gesetzen unter-

worfen.

Diese Gesetze haben, da sie keine wirklichen Wesen, keine Substanzen sind, folglich einen

anderen Grund, der mir unbekannt ist [...] Diese Gesetze zeigen uns die Wirkungen, ohne die

Ursachen zu erklaren; sie genugen nicht, uns das Weltsystem und den Lauf des Weltalls klarzu-

machen.“

28

Newton fand das Gesetz der Anziehungskraft. Aber durch die Anziehungskraft allein

wurde die Welt bald in eine unbewegliche Masse verwandelt. Damit die Himmelskorper sich in

ihren Kurven bewegen, mußte er noch die abstoßende Kraft hinzufugen.

Je mehr ich Wirkung und Gegenwirkung der aufeinander wirkenden Naturkrafte beobachte,

desto mehruberzeuge ich mich, daß man regelmaßig von Wirkung zu Wirkung bis zu einem Willen

als erste Ursache zuruckgehen muß; denn eine fortlaufende Kette von Ursachen bis ins Unendliche

voraussetzen, heißt im Grunde genommen, gar keine voraussetzen. Mit einem Wort [...] Bei den

leblosen Korpern zeigt sich Tatigkeit nur durch die ihnen mitgeteilte Bewegung, wie esuberhaupt

ohne Willen keine eigentliche Tatigkeit gibt [...] Ich glaube also, daß ein Wille das Weltall bewegt

und die Natur beseelt ist.“

29

Die Frage wurde seinerzeitofter gestellt und ist immer noch nicht beantwortet.

30

Die Vernunft

schaut hier nun einmal in ihren eigenen Abgrund. Wie die Vernunft aus dem Urnebel oder Urknall in

die Welt gekommen ist, wie das Personsein ins Sein trat, kann man eben nicht vernunftig erklaren.

Dem savoyischen Vikar ergibt sich aus der Einsicht in die Verknupfung aller Bewegungen,

welcher jede einzelne jederzeit als Mittelpunkt allerubrigen gedacht werden kann, die Erkenntnis,

daß dieser Wille ein intelligenter Wille ist. Dieses Wesen, das diesen Willen hat und durch sich

selbst existiert, nennt er Gott.

31

- Was Rousseau hier bietet, ist gewiß auch ein Beitrag zum

Vernunftgebrauch, dessen Bedeutung noch nicht erschopft ist.

27

ebenda, S. 140

28

ebenda, S. 141

29

ebenda, S. 142

30

D’Alembert fragte in einem Brief an Friedrich II. vom 30. Dezember 1770:

Aber wie kann die (materielle)

Organisation die Empfindung und das Denken hervorbringen.“ Zitiert nach Manfred Starke, Der franzosische Mate-

rialismsus, in: Franzosische Aufklarung. Burgerliche Literatur und Bewußtseinsbildung, Kollektivarbeit unter Leitung

von Winfried Schroder, Reclam, Leipzig, 1979, S. 209

31

ebenda, S. 149

5


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3.3 Meine Wurde

Mit dem Namen Gott verbinde er die Idee von Intelligenz, Macht und Willen. Die notwendige Folge

sei Gute, was er nun entwickeln muß.

Vor der Hand befindet sich unser Gottsucher allerdings noch in Verwirrung.

32

Er erkennt Gott

wohl in seinen Werken, sobald er aber nach seinem Wesen schauen will, entschlupft er ihm. Nun

ist er wieder auf sich selbst zuruckgeworfen, bevor er von der Gute Gottes reden kann. Er fragt,

welchen Rang er selbst in der Ordnung der Dinge hat.

33

Nicht als Individuum aber der Gattung

nach gebuhre ihm die oberste Stelle, denn er besitze die Fahigkeit auf alle Korper seiner Umgebung

einzuwirken oder umgekehrt, sich ihnen darzubieten oder sich ihrer Einwirkung zu entziehen -

durch den Willen. Er sei das einzige Wesen,

dem sein Verstand eineUbersichtuber das Ganze

gestattet.“ Nur der Mensch habe die Gabe, alleubrigen Wesen

zu beobachten, ihre Bewegungen

und Wirkungen zu messen, zu berechnen und vorherzusehen und das Gefuhl des gemeinsamen

Daseins gleichsam mit dem individuellen Dasein zu verbinden.“

34

Was kann man also wohl an dem Gedanken, daß alles fur mich geschaffen ist, lacherlich finden,

wenn ich nun doch einmal das einzige Wesen bin, das alles auf sich zu beziehen vermag.“

35

Ich

vermag die Wesen und ihre gegenseitigen Beziehungen zu beobachten und zu erkennen, ich vermag

zu empfinden, was Ordnung, Schonheit und Tugend ist; ich vermag das Weltall zu beobachten

und mich bis zu der Hand zu erheben, die es lenkt, ich vermag das Gute zu lieben und zuuben

und sollte mich mit den Tieren auf eine Stufe stellen? Niedrige Seele, deine traurige Philosophie

macht dich ihnenahnlich, oder du gibst dir vielmehr vergeblich Muhe, dich zu erniedrigen; denn

deine naturliche Befahigung legt Zeugnis wider deine Grundsatze ab [...] und selbst der Mißbrauch

deiner Fahigkeiten bestatigt dir zum Trotz ihre Vortrefflichkeit.“

36

Der Mensch kann seine Bestimmung verfehlen. Er kann zum Unmenschen werden, er kann

zum negativen Bild des Menschen pervertieren, aber kann nicht die Stufe des Tieres erreichen.

Da hat Rousseau nichts Lacherliches gesagt. Fragwurdig ware dagegen eine Anthropologie, die

diese Scheidelinie aufheben wollte. Sie kann sicherlich zu dem Ergebnis kommen: Der Mensch ist

dasjenige Saugetier, das wenig Instinkt hat und den Mangel durch Verstand kompensiert und

uberbietet. Aber damit, daß der Mensch als Saugetier mit besonderen Qualitaten definiert wird,

ist das Was des Menschen nicht restlos definiert. Darauf muß eine philosophische Anthropologie

noch immer bestehen.

Rousseau bekennt, daß er zufrieden sei mit dem Platz, an den ihn Gott gestellt hat. Wenn er

seine Stellung in der Ordnung der Dinge wahlen konnte, wurde er sich entscheiden, Mensch zu

sein. Etwas Besseres gabe es nicht.

Kann ich mich in solcher Weise ausgezeichnet sehen, ohne mir

zugleich Gluck zu wunschen, ohne die Hand zu segnen, welche mir diese Stellung angewiesen hat?

Bei meiner ersten Einkehr in mich selbst erwacht in meinem Herzen ein Gefuhl der Dankbarkeit

und der Segnung gegen den Schopfer meines Geschlechts [...] Ich bete die hochste Macht an und

fuhle mich von ihren Wohltaten geruhrt.“

37

Die Wurde, die der Mensch in Rousseaus Anthropologie erhalt, ist die tiefste Begrundung fur

jenes unveraußerliche Recht, das im Gesellschaftsvertrag eine Rolle spielen wird. Diese Wurde ist

eins mit meinem Logo im Universum. Diese Wurde ist eins mit der Fahigkeit, mich und die Ob-

jekte außer mir zu vergleichen. Ohne diese Wurde ware mir die virtuelle Welt nicht entstanden.

Ohne die virtuelle Welt hatte ichuberhaupt keine Welt, sondern nur Umgebung. Welt heißt grie-

chisch Kosmos, das geordnete Ganze und auch Schmuckkastchen. Umgebung ware demnach das

Nichtgeordnete, was man auch nicht weiter verstehen kann.

32

ebenda, S. 150

33

ebenda, S. 150

34

ebenda, S. 151

35

ebenda, S. 151

36

ebenda, S. 152f

37

ebenda, S. 152

6


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3.4 Mein Wille

Soweit so gut, doch nun will der savoyische Vikar seine individuelle Stellung innerhalb der Gattung

kennen lernen. Was wird dann aus ihm?

Welch ein Schauspiel? Wo ist die Ordnung, die ich vorher

beobachtet hatte? Das Bild der Natur zeigte mir nur Harmonie und Ebenmaß, das des menschlichen

Geschlechts stellt sich mir nur als Verwirrung und Unordnung dar! [...] Die Tiere sind glucklich,

ihr Konig allein ist elend! O Weisheit, wo sind deine Gesetze? O Vorsehung, regierst du so die

Welt?“

38

Indem ichuber die menschliche Natur nachdachte, glaubte ich in ihr zwei vollig verschiedene

Prinzipien zu entdecken, deren eine ihn zur Erforschung der ewigen Wahrheiten, zur Liebe der

Gerechtigkeit und des moralisch Schonen, bis zu den Regionen der intellektuellen Welt erhob [...]

Nein, der Mensch ist keine Einheit; ich will und will auch nicht, ich fuhle mich zugleich frei und

unfrei, ich erkenne das Gute und tue trotzdem das Bose ...“

39

Der Mensch habe namlich einerseits

den Hang, sich allem vorzuziehen. Doch sei ihm anderseits ein

ursprungliches Gerechtigkeitsgefuhl

angeboren.“

40

Also kann der Mensch nicht aus einer einzigen Substanz bestehen.

Rousseau sieht sich veranlaßt, einige Worte zur Klarung des Substanzbegriffes zu verlieren.

Sie

(gemeint ist der junge Mann, der dem savoyischen Vikar zuhort, d. h. der Leser) werden bemerken,

daß ich mit dem Wort Substanz im allgemeinen ein Wesen (etre) bezeichne, welches mit irgendeiner

ursprunglichen Eigenschaft ausgestattet ist [...] Lassen sich nun alle ursprunglichen Eigenschaften

(toutes les qualites primitives), die uns bekannt sind, in einem und demselben Wesen vereinigen

(se reunir dans un memeetre), so darf man auch nur eine Substanz annehmen.“

41

In dem Fall kame ich sicher in den Genuß der beruhigenden Wirkung eines einheitlichen Welt-

bildes.

Kommen jedoch solche (Eigenschaften) vor, die sich gegenseitig ausschließen, so muß es

auch ebenso viele verschiedene Substanzen geben, als man dergleichen Ausschließungen vornehmen

kann.“

42

Er fragt: Wie

verwandelt“ sich etwas Ausgedehntes in etwas Denkendes/Empfindendes? Der

physiologische Vorgang, der zum Denken gehort, ist ja nicht das Denken selbst. Ebenso wissen wir

nicht, wie wir sehen. Soll nun das, was einst Ernst war, eine Schrulle sein, weil die Methoden der

sog. modernen Wissenschaften das Problem nicht losen konnen?

Mit einer offenen Frage im Rucken stoßt Rousseau abermals auf den existentiellen Bezug der

Weltauffassung. Theoretische und praktische Vernunft sind nicht zu trennen.

Mein Wille ist von meinen Sinnen unabhangig, ich stimme bei oder widerstehe, ich unterliege

oder bleibe Sieger, immer sagt mir eine innere Stimme, ob ich es getan habe, was ich habe tun

wollen. [...] Das Gefuhl meiner Freiheit verliert sich in mir nur dann, wenn ich sittlich so tief sinke,

daß ich die Stimme der Seele verhindere, sich gegen das Gesetz des Korpers zu erheben.

Ich kenne den Willen nur soweit ich mir des meinigen bewußt werde, und der Verstand ist

mir nicht besser bekannt. Wenn man nach der Ursache fragt, welche meinen Willen bestimmt, so

frage ich meinerseits nach der Ursache, welche mein Urteil bestimmt [...] und wenn man genau

begreift, daß der Mensch beim Fallen seiner Urteile eine Tatigkeit ausubt, daß sein Verstand in

nichts anderem als in der Fahigkeit zu vergleichen und zu urteilen besteht, daß seine Freiheit nur

eineahnliche oder von jener abgeleitete Fahigkeit ist. Erwahlt er das Gute nach dem, was seinem

Urteil zufolge das Wahre ist; hat er ein falsches Urteil gefallt, so wird auch seine Wahl schlecht

sein. Welches ist also die Ursache, die seinen Willen bestimmt? Es ist sein Urteil. Und welches ist

nun wieder die Ursache, die sein Urteil bestimmt? Es ist die geistige Fahigkeit, sein Vermogen, zu

38

ebenda, S. 153

39

ebenda, S. 153. Wer denkt nicht an das, was der Apostel Paulus an die Romer schrieb: Rom. 7, 15-24

40

ebenda, S. 154

41

ebenda, S. 154

42

ebenda, S. 154

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urteilen. Die bestimmende Ursache liegt in ihm selbst. Hier ist die Grenze,uber welche hinaus ich

nichts mehr verstehe.“

43

Von eben diesem Vermogen, zu urteilen, erklart sich auch der Gedanke jenes unveraußerlichen

Rechts, das wir bei Askemos auch finden.

43

ebenda, S. 157

8


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3.5 Das unveraußerliches Recht und der

Ubergang zum Gesellschaftsvertrag

Ohne Zweifel reicht meine Freiheit nicht so weit, mein eigenes Wohl nicht zu wollen [...] Meine

Freiheit besteht eben darin, daß ich nur das zu wollen imstande bin, was mir heilsam ist, oder was

ich wenigstens dafur halte, ohne daß etwas Fremdes mich bestimmt [...]

Die Quelle einer jeden Handlung liegt in dem Willen eines freien Wesens; einen noch tieferen

Grund vermogen wir nicht nachzuweisen [...] Der Mensch ist demnach in seinen Handlungen frei

und als solch freies Wesen von einer immateriellen Substanz beseelt...“

44

Damit hatten wir das Glaubensbekenntnis des savoyischen Vikars in den Grundzugen nachge-

zeichnet.

Nachdem er die

Hauptwahrheiten“ seiner Welt ermittelt hat,

so bleibt mir nur noch zu un-

tersuchenubrig, welche Grundsatze ich daraus fur meinen Wandel herzuleiten habe und welche

Regeln ich mir vorschreiben muß ...“

45

Unverkennbar geht es um die Selbstbestimmung des Menschen. Das aktive Sein (das, was ein

Mensch nach außen tut) gehorcht, wahrend

das passive Sein befiehlt. Das Gewissen ist die Stimme

der Seele, die Leidenschaften sind die Stimme des Korpers.“

46

Beide Stimmen liegen freilich nicht

selten im Widerstreit. Die Auflö dieses Widerstreites laßt sich nun durch eine Formulierung do-

kumentieren, die den Menschen bei Rousseau Zuge verleiht, die dem

User“ bei Askemos erstaunlich

verwandt sind.

Nur zu oft tauscht uns die Vernunft, und wir haben deshalb das unveraußerliche

Recht, uns ihren Ratschlagen nicht zu fugen; das Gewissen tauscht uns dagegen niemals; es ist der

wahre Fuhrer des Menschen ...“

47

Wenn es um Computer geht, sollen wir auf die Ratschlage der Vernunft verzichten? Hat je

jemand solch eine Provokation gewagt? Ruhig Blut! Man konnte namlich sagen, Rousseaus Men-

schenbild ist der Typ, der sich der Crackervernunft

48

oder dem Geist des Kapitalismus schon

im Dampfmaschinenzeitalter widersetzte. Der franzosische Wortlaut der zitierten Stelle ist viel-

leicht noch urtumlicher als H. DenhardtsUbersetzung. Die entscheidende Formulierung lautet:

...n’avons que trop acquis le droit de la r`ecuser ...“

49

...wir haben damit nur allzusehr das

Recht erworben, sie (die Vernunft) abzulehnen“. In DenhardtsUbersetzung ist das

unveraußerliche

Recht“ gewissermaßen schon auf den Begriff gebracht. In Rousseaus adverbialer Fassung (ne [...]

que trop acquis = nur allzusehr erworben) ist der Begriff des

unveraußerlichen“ Rechts gewis-

sermaßen noch im Werden. Inhaltlich geschieht Vernunftkritik vom Gewissen her. Auch das ist

Aufklarung, nicht etwa antiaufklarerischer Starrsinn.

Um Rousseaus Intention zu verdeutlichen, sei die Stelle im

Emil“, die wir inzwischen bei un-

seren kursorischen Lekture erreicht haben, durch eine Stelle aus den

Bekenntnissen“ interpretiert.

In Turin verdingte sich der jugendliche Rousseau in einem vornehmen Haus. Dort stahl er

ein rosa- und silberfarbenes Band“. Und da er es nicht gut verbarg, fand man es bald. Man

wollte wissen, wo er es genommen hatte. Er stotterte und sagte, daß Marion es ihm gegeben habe.

Marion war die Kochin. Man ließ sie kommen. In Gegenwart von vielen Anwesenden, darunter der

44

ebenda, S. 158. Rousseau greift mit der Lehre vom freien Willen eine alte Diskussion auf, die auch zur Zeit der

Reformation eine Rolle gespielt hat, exemplarisch zwischen Erasmus und Luther. Hier sei nur folgendes bemerkt.

Luther behauptet zwar, daß der Wille unfrei sei, trotzdem kennt er die Freiheit der Handlung. So ware Rousseaus

freier Wille bei Luther durchaus der unfreie, fleischliche Wille des naturlichen Menschen. Im Gegensatz dazu steht

der geistliche Wille. Diese theologische Debatte steht beim savoyischen Vikar irgendwie im Hintergrund, was aber

nicht heißt, daß Rousseau Luther gelesen haben muß. Was Luther mit dem unfreien fleischlichen Willen gemeint hat,

hatte er als waschechter Aufklarer sowieso nicht verstanden.

45

ebenda, S. 169f

46

ebenda, S. 170

47

ebenda, S. 170

48

Vgl. Pekka Himanen, Die Hacker-Ethik und der Geist des Informationszeitalters, 2001

49

Jean-Jacques

Roussesau

(1762),Emile

ou

de

l’

éion:livre

IV,

S.

69f.

http://www.uqac.uquebec.ca/zone30/Classiques des scienes sociales/livres/Rousseau jj/emile

9


Page 10

Graf della Rocca, zeigte man ihr das Band. Rousseau beschuldigte sie

mit großer Frechheit“, ihr

Blick hatte

die Teufel entwaffnet“, aber sein

ruchloses Herz widerstrebt“. Der Graf della Rocca

schickte beide fort. Diese Erinnerungen haben Rousseau noch nach vierzig Jahren das Gewissen

belastet.

Bemerkenswert ist die nachgelieferte Selbstbeobachtung wahrend der Begebenheit. Es ware

nicht eigentlich – so paradox es klingen mag – Bosheit, sondern Freundschaft der Grund fur das

schabige Verhalten gewesen. Diese Marion stand ihm in Gedanken am nachsten und er walzte seine

Schuld auf sie, weil er am intensivsten an sie dachte. Er beschuldigte sie, das getan zu haben, was

er habe tun wollen. Er wollte ihr das Band schenken. Als sie dann anwesend war, bereute er zwar,

aber die vielen Leute, die auf ihn sahen, trieben ihn in die Verstockung. Er furchtete die Schande.

Hatte man ihn zu sich selber kommen lassen, so hatte er unfehlbar gestanden. Wenn Herr della

Rocca ihn beiseite genommen hatte, so hatte er sich sogleich ihm zu Fußen geworfen, berichtet er

in seinen Bekenntnissen.

Von hieraus fallt wieder Licht auf den

Emil“, wo es heißt:

Wenn ich mich den Versuchungen

ergebe, so lasse ich mich bei meinem Handeln durch den Antriebaußerer Objekte bestimmen.

Wenn ich mir dagegen wegen meiner Schwache Vorwurfe mache, so schenke ich meinem Willen

Gehor. Ich bin durch meine Laster Sklave, und frei durch meine Gewissensbisse.“

50

Wir hatten die

Stelle schon im Abschnitt

Mein Wille“ zitiert, aber die Pointe fur den jetzigen Zusammenhang

aufgespart.

Freiheit durch Gewissensbisse produziert einen Begriff des Rechts, der sich nicht am schnellen

Vorteil orientiert, sondern dem Sachverhalt gerecht werden will. Auf die Problematik sind wir schon

am Anfang unserer Untersuchung gestoßen. Nun ergibt sich beinahe wie von selbst derUbergang

zum Gesellschaftsvertrag.

50

ebenda, S. 157

10


Page 11

4

Der Gesellschaftsvertrag“

Rousseau veroffentlichte in demselben Jahr, in dem der

Emil“ erschien, seinen

Gesellschafts-

vertrag“.

51

Halten wir beide Schriften neben einander, tritt ihr Zusammenhang lebhaft hervor.

Uns interessiert im Blick auf Askemos derUbergang von den anthropologischenUberlegungen im

Emil“ zu den Prinzipien des politischen Rechts im

Gesellschaftsvertrag“. Wie verhalt sich meine

Erkenntnis, mein Standpunkt, meine Wurde und mein Wille zu den Turbulenzen des gesellschaft-

lichen Verkehrs? Unterstutzung hole ich mir inbezug auf dieUbergangsproblematik von Claire

Gaspard. Sie meint, Rousseaus Philosophie sei,

(wenn man in Betracht zieht, daß Emil und der

Contrat social zwei quasi gleichzeitig entstandene und sich gegenseitig erganzende Teile sind) ein

koharentes System ...“

52

Die Schnittstelle ist das Recht.

4.1 Da geht Hobbes hops

Der

Gesellschaftsvertrag“ beginnt wie der

Emil“ mit einer eindringlichen Feststellung des Ge-

gensatzes zwischen Natur und Gesellschaft.

Der Mensch wird frei geboren, unduberall liegt er

in Ketten.“

53

Ein Naturrecht sind die Ketten nicht, also muß dieses Recht der gesellschaftlichen

Ordnung aus Vereinbarung stammen. Das muß Rousseau zeigen.

Er beginnt mit der Familie. Sie

besteht nur durchUbereinkunft“. Ihr Zweck ist die eigene

Erhaltung des Menschen.

54

Die Familie ist also...das erste Muster der staatlichen Gebilde. Der

Herrscher ist das Ebenbild des Vaters, das Volk ist das Ebenbild der Kinder, und da alle gleich frei

geboren sind, veraußern sie ihre Freiheit nur um ihres Nutzens willen.“ (n’ali`enent leur liberte que

pour leur utilite.)

55

Es kommt uns auf das Verb an: aliener = veraußern, verkaufen, entfremden.

Gleich zu Anfang des

Gesellschaftsvertrages“ greift Rousseau das Problem der

Veraußerung/Ubertragung von Rechten auf und zwar so, daß der fundamentale Unterschied zu

Hobbes ins Auge springt.

Dabei geht es zugleich um die Bewertung des vorstaatlichen Naturzustandes, was nicht heißt,

daß dieser als historische Tatsache vorgestellt wird. Der Naturzustand ist ein heuristisches Prinzip.

Gesucht wird eine Antwort auf die Frage nach der Gesellschaft, die es zu errichten gilt.

Nach Hobbes ist es

klar, daß alle freiwilligen Handlungen vom Willen ihren Anfang nehmen.

Der Wille zu handeln oder nicht zu handeln hangt aber ab von der Aussichtuber das Gute und das

Schlechte, den Lohn und die Strafe.“

56

Rousseau verfuhr ja soahnlich. Nach Rousseau hatte der

Wille seine Ursache, namlich das Urteil des Menschen. Aber der Wille erwahlt bei ihm das Gute,

wenn es das Wahre ist. Hat der Mensch falsch geurteilt, wird auch die Wahl schlecht sein.

Bei Rousseau liegt die bestimmende Ursache des Willens im Menschen und jenseits dieser Gren-

ze konnte er nichts mehr verstehen, wie wir gesehen hatten, wahrend fur Hobbes die bestimmende

Ursache fur den Willen imaußeren Objekt zu suchen ist:

Am haufigsten wollen die Menschen

einander verletzen, weil viele denselben Gegenstand zugleich begehren ...“

57

Die Natur hat je-

dem ein Recht auf alles gegeben; d. h. in dem reinen Naturzustand oder ehe noch die Menschen

durch Vertrage sich gegenseitig gebunden hatten, war es jedem erlaubt zu tun, was er wollte und

51

Ich zitiere nach Jean-Jacques Rousseau, Der Gesellschaftsvertrag,ubersetzt von H. Denhardt, neu durchgesehen

von Werner Bahner, Reclam, Leipzig, 1958. Den franzosischen Text zitiere ich nach Jean-Jacques Rousseau, Du

Contrat Social ou Principes du Droit Politique, Edition de 1762, http://unige.ch/athena/rousseau/jjr cont.html

52

Claire Gaspard, Die Rousseau-Rezeption wahrend der franzosischen Revolution, Dialektik, Bd. 17, Koln, 1989,

S. 22

53

Der Gesellschaftsvertrag, S. 6

54

vgl. ebenda, S. 7

55

ebenda, S. 7

56

Thomas Hobbes, Vom Menschen/Vom Burger, Philosophische Studientexte, Berlin, 1967 (zuerst 1642), S. 135

57

ebenda, S. 81

11


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gegen wen er es wollte ...“

58

Der Sieger kann den Besiegten zwingen, d. h. Recht setzen.

Die

Wirkung eines solchen Rechts ist so ziemlich dasselbe, als wennuberhaupt kein Recht bestunde.“

59

Fur Hobbes bedeutet der Naturzustand Krieg, weil jeder ein Recht auf alles hat.

60

Gleichzeitig kann man bei ihm lesen:

Das erste Gebot der Vernunft ist Friede, allesubrige sind

Mittel, den Frieden herbeizufuhren ...“

61

Man darf nicht denken, Hobbes konnte seine Gedanken

nicht zusammennehmen. Er suchte nach einer politischen Philosophie, mit der man die Schrecken

von Krieg und Burgerkrieguberwinden konnte.

Bei Rousseau fanden wir einen Menschen, der wohl den Hang hat, sich allem vorzuziehen. Doch

andererseits gab es ein angeborenes Gerechtigkeitsgefuhl.

Die Ungerechtigkeit ist uns nur in dem

Fall angenehm, daß wir Vorteil aus ihr ziehen; in jedem andern hegt man den Wunsch, daß der

Unschuldige in Schutz genommen werde. Gewahren wir in der Straße oder sonst auf dem Wege

einen Akt der Gewalt oder Ungerechtigkeit, so steigt augenblicklich eine Regung des Zorns und

des Unwillens in uns empor und treibt uns an, die Partei des Unterdruckten zu ergreifen.“

62

Rous-

seau konnte bei der Abfassung dieser Zeilen vor Augen gehabt haben, wie Hobbes im Zuge der

Erlauterung der naturlichen Rechte, die zwar grundsatzlich den Frieden suchen,uber die Wirk-

lichkeit urteilte:

Die meisten Menschen sind jedoch infolge des ungerechten Begehrens nach dem

gegenwartigen Vorteil sehr wenig geneigt, die vorgenannten Gesetze, obgleich sie sie anerkennen,

zu befolgen.“

63

Was bei Rousseau nur moglich wird, wenn jemand sittlich so tief gesunken ist, daß er mutwillig

die

Stimme der Seele“ zum Schweigen bringt, sobald sie sich gegen das

Gesetz des Korpers“

erhebt

64

, ist fur Hobbes der Normalfall. Wo bei Hobbes hochste Gewalt und damit auch die Strafe

das Recht garantiert, schafft bei Rousseau die Sitte und Gewohnheit, die Erziehung – die Regelung.

Es gibt eben Fragen, bei denen schaut die Vernunft in ihren eigenen Abgrund.

In dieser Hinsicht illustriert Rousseau kulturgeschichtlich und philosophisch, was Askemos will,

wenigstens in der Computer-Welt.

Weder Rousseau noch Hobbes konnten verhindern, daß die Vernunft bei den Grundfragen des

Daseins in ihren eigenen Abgrund schaut, trotzdem mussen sie eine praktische Entscheidung treffen.

Wenn der Naturzustand Krieg bedeutet und das erste Gebot der Vernunft auf Frieden zielt

und also jemand gegen das naturliche Gesetz handelt, der nicht von seinem Recht auf alles abgeht,

dann muß das Recht auf einen anderenubertragen werden.

65

Daraus folgt,

daß jeder Burger seinen

Willen dem Willen jenes unterworfen hat, der die hochste Staatsgewalt innehat ...“

66

Eine solche

Herrschaft, welche die großte ist, welche Menschen auf einen Menschenubertragen konnen, heißt

absolut.“

67

Die absolute Herrschaft kann eine Person oder eine Versammlung, einschließlich der

Demokratie, innehaben

68

. Diese hochste Gewalt ist daher eben nicht nur das Haupt, sondern die

Seele des Staates. Nur durch den Inhaber der hochsten Gewalt kann der Staat wollen oder nicht

wollen.

69

In dem Willen des Inhaber der hochsten Gewalt

ist auch der Wille der einzelnen Burger

enthalten...“

70

58

ebenda, S. 83

59

ebenda, S. 83

60

vgl. ebenda S. 87 u. 88

61

ebenda, S. 107

62

Emil, Bd. 2, S. 173

63

Vom Burger, S. 110

64

Emil, Bd. 2, S. 157

65

vgl.Vom Burger, S. 88

66

ebenda, S. 137

67

ebenda, S. 137f

68

ebenda, S. 146f: Durch Vertrag

wird das Recht, das vorher jeder einzelne zum Gebrauch seiner Krafte fur seinen

Nutzen hatte, zum allgemeinen Besten ganzlich einem Menschen oder einer Versammlungubertragen.“

69

vgl. ebenda, S. 146

70

ebenda, S. 142

12


Page 13

Diese Fassung des Allgemeinwillens muß wohl Rousseau vor Augen gehabt haben, als er seinen

Entwurf des Gesellschaftsvertrages vorlegte.

Die ursprungliche Veraußerung von Rechten in der Familie geschieht um des Nutzens willen,

zum Zwecke der Selbsterhaltung. Das ware legitim. Rousseau war eben Aufklarer. Aber nun folgt

dem Nutzen die Entfremdung. Im Staat ersetzt

die Lust zu befehlen die Liebe“

71

.

So ist also das

menschliche Geschlecht wie Vieh in Herden aufgeteilt, von denen jede ihr Oberhaupt hat, das sie

beschutzt, um sie zu verschlingen.“

72

Caligula liefert den ersten Beleg. Er verglicht die Konige mit

den Gottern und die Volker mit den Tieren. Hobbes und Grotius stimmten mit dieser Lehre faktisch

uberein.

73

Wenn ein einzelner,“ sagt Grotius,

eine Freiheit veraußert und sich zum Sklaven eines

Herrn machen kann, weshalb sollte dann nicht ein ganzes Volk die seinige veraußern und sich

einem Konig unterwerfen konnen? [...] Halten wir uns zunachst an den Audruck ’‘veraußern”.

Veraußern heißt verschenken oder verkaufen. Ein Mensch, der sich zum Sklaven eines anderen

macht, verschenkt sich aber nicht, sondern verkauft sich wenigstens seines Unterhaltes wegen;

wofur verkauft sich aber ein Volk?“

74

Da stand die Aufklarung auf schwachen Beinen. Das Versprechen, ein Gesellschaftsmodell zu

entwerfen, das der Natur des Menschen entspricht, war fur Rousseau nicht eingelost.

Die Behauptung, ein Mensch verschenke sich, stellt etwas Absurdes und Unbegreifliches dar;

eine solche Handlung ist allein deswegen ungesetzlich und nichtig, weil derjenige, der dies tut, nicht

bei Verstand ist. Dasselbe von einem ganzen Volk anzunehmen, bedeutet ein Volk von Verruckten

vorauszusetzen: Verrucktheit verleiht kein Recht.“

75

Auf seine Freiheit verzichten, heißt auf sein Menschsein, auf die Menschenrechte verzichten,

ja selbst auf seine Pflichten verzichten. Wer auf alles verzichtet, fur den ist keine Entschadigung

moglich. Ein solcher Verzicht ist mit der Natur des Menschen unvereinbar ...“

76

Wir sagten, unsere Methode solle es sein, Rousseau auf Askemos hin zu lesen. Und wir stellen

fest, der

garstige Graben“ des historischen Abstandes zwischen Rousseaus und Askemos wird

immer schmaler, naturlich nicht was die technischen Fragen betrifft. Doch daß jemand nie seine

Rechte ungeteilt veraußern darf, ist ein Gedanke, der vor Rousseau m. W. noch keine Rolle spielte.

Seitdem hat es der Gedanke allerdings auch nicht leicht, nicht nur in Schurkenstaaten.

4.2 Der Charakter des Vertrages

Nun steht Rousseau gewissermaßen vor der Askemos-Aufgabe:

Eine Form der gesellschaftlichen Vereinigung gilt es zu finden, die mit der ganzen gemeinsamen

Kraft die Person und das Vermogen jedes Gesellschaftsgliedes verteidigt und schutzt durch die jeder

einzelne, obgleich er sich mit allen vereinigt, gleichwohl nur sich selbst gehorcht und so frei bleibt

wie vorher.“

Dies ist die Hauptfrage, deren Losung der Gesellschaftsvertrag gibt. Die Klauseln

dieses Vertrages sind durch den Charakter der Handlung so bestimmt, daß die geringsteAnderung

sie nichtig und wirkungslos machen mußte ...“

77

Auf Askemos bezogen wurde diese Nichtigkeit und Wirkungslosigkeit auf technischem Wege

erreicht. Um die Philosophie zu verstehen, mussen wir aber den Abstand zwischen Askemos und

Rousseau wieder etwas vergroßern.

Alle diese Klauseln lassen sich [...] auf eine einzige zuruckfuhren, namlich auf das ganzliche

Aufgehen jedes Gesellschaftsgliedes mit allen seinen Rechten in der Gesamtheit, denn indem sich

jeder ganz hingibt, ist die Bedingung zunachst fur alle gleich [...] so hat niemand ein Interesse

71

Der Gesellschaftsvertrag, S. 7

72

ebenda, S. 8

73

ebenda, S. 8

74

ebenda, S. 10f

75

ebenda, S. 11

76

ebenda, S. 12

77

ebenda, S. 18

13


Page 14

daran, sie den anderen beschwerlich zu machen. Da ferner dieses Aufgehen ohne allen Vorbehalt

geschieht, so ist die Verbindung so vollkommen, wie sie nur sein kann, und kein Gesellschaftsglied

hat irgend etwas Weiteres zu beanspruchen, ...“

78

Jetzt ist zu beachten, welchen Charakter der Vertrag bei Rousseau tatsachlich hat. Bei einer

Versicherungsgesellschaft zahlt jeder seine Pramie, einen Teil seines Besitzes, ein und erhalt dafur

eine Garantiesumme plusUberschusse, deren Hohe nicht garantiert ist. Das Ganze ist ein Geschaft.

Ich verkaufe Freiheit in Form von Geld und erhalte Sicherheit in Form von Geld. Bei Rousseau wird

ein ganz anderer Vertrag geschlossen. Jeder zahlt als Pramie sich selbst ein, den ganzen Menschen

samt Willen und den Einsatz bekommt auch auch wieder heraus.Uberschusse konnen so gar nicht

entstehen, aber ein Gesamtwille. Das ist mehr, als jeder gewohnliche Vertrag bietet

79

. Die Vertrage,

die wir gewohnlich schließen, sind das Werk und Ergebnis unseres freien Willens, bei Rousseau ist

der Vertrag die Form des Willens. Tatsachlich hat Rousseau die Bedingung fur die Souveranitat des

Volkes beschrieben.

Wenn sich schließlich jeder allen hingibt, gibt er sich damit niemanden hin,

und da manuber jedes Gesellschaftsglied dasselbe Recht erwirbt, das man ihmuber sich gewahrt,

so gewinnt man fur alles, was man verliert, Ersatz und mehr Kraft, das zu bewahren, was man

hat.“

80

Bei Rousseau wird der Burger zum eigenen Souveran, im Askemos wird der Nutzer zu seinem

eigenen Superuser. Bei beiden verschwindet die absolute/zentrale Gewalt.

4.3 Der Nerv der Sache

An die Stelle der einzelnen Person jedes Vertragschließenden setzt ein solcher Gesellschaftsvertrag

sofort einen geistigen Gesamtkorper [...] der durch ebendiesen Akt seine Einheit, sein gemeinsames

Ich, sein Leben und seinen Willen erhalt ...“

81

Im passiven Zustand sei der Gesamtkorper der Staat,

wird er aktiv, sei er der Souveran. Bei Hobbes konnte der Staat nur wollen oder nicht wollen, indem

die hochste Gewalt auf eine Person oder eine Versammlungubertragen wurde. Hier sucht Rousseau

eine andere Losung, die der von Askemos merkwurdig verwandt ist.

Da [...] der Souveran sein Dasein nur aus der Heiligkeit des Vertrages schopft, kann er sich

gegen einen anderen nie selbst zu etwas verpflichten, was eine Zuwiderhandlung gegen der Urvertrag

hervorbringen wurde, wie etwa die Veraußerung eines Teiles seiner selbst ...“ Solche Veraußerung

ware nicht nur Entfremdung, sondern

wurde seine Selbstvernichtung sein, und ein Nichts kann

nichts schaffen.“

82

Der Souveran nun, der nur aus den einzelnen, aus denen er besteht, gebildet wird, hat und kann

kein dem ihrigen zuwiderlaufendes Interesse haben ...“

Anders jedoch ist die Stellung der Unter-

tanen dem Souveran gegenuber, der trotz des gemeinschaftlichen Interesses keine Burgschaft fur

ihre Verpflichtungen besitzen wurde, wenn er nicht Mittel fande, sich ihrer Treue zu versichern.“

83

Damit demnach der Gesellschaftsvertrag keine leere Form sei, enthalt er stillschweigend folgende

Verpflichtung, die allein denubrigen Kraft gewahren kann; sie besteht darin, daß jeder, der dem

Allgemeinwillen den Gehorsam verweigert, von dem ganzen Korper dazu gezwungen werden soll;

das hat keine andere Bedeutung, als daß man ihn zwingen wird, frei zu sein.“

84

Der Zwang ist ein erzieherischer. Er wird nicht als Strafe erfahren, wie bei Hobbes, sondern als

notwendige Folge des Verhaltens erfahren, wie im

Emil“. Die

erzieherische Wirkung“ wird bei

78

ebenda, S. 18

79

Der Vergleich mit der Versichungsgesellschaft findet sich ausfuhrlicher bei Otto Vossler, Rousseaus Freiheitslehre,

Gottingen, 1963, S. 242f.

80

Gesellschaftsvertrag, S. 19. Hervorhebung von mir.

81

ebenda, S. 19

82

ebenda, S. 21

83

ebenda, S. 21f

84

ebenda, S. 22

14


Page 15

Askemos erreicht durch Offenheit

85

.

Der Verlust, den der Mensch durch den Gesellschaftsvertrag

erleidet, besteht in dem Aufgeben seiner naturlichen Freiheit und des unbeschrankten Rechtes auf

alles, was ihn reizt und er erreichen kann. Sein Gewinnaußert sich in der staatsburgerlichen Freiheit

und in dem Eigentumsrecht auf alles, was er besitzt.“

86

Ich behaupte also, daß die Souveranitat,

die nichts anderes als die Ausubung des Allgemeinwillens ist, nie veraußert werden kann und sich

der Souveran, der ein kollektives Wesen ist, nur durch sich selbst darstellen laßt. Die Macht kann

wohlubertragen werden, aber nicht der Wille.“

87

Bei Hobbes entstand durch dieUbertragung der Macht auf eine Person oder Versammlung eine

Institution. Bei Rousseau entsteht durch die Wahrung jener anthropologischen Konstanten (meine

erste Erkenntnis, mein

hoherer“ Standpunkt, meine Wurde, mein Wille) im Gesellschaftsvertrag

der Allgemeinwille als

regulative Idee“ (Kant).

Es besteht ein Unterschied zwischen dem Willen aller (volonte de tous) und dem Allgemeinwil-

len (volonte generale); letzterer geht nur auf das Gemeininteresse aus, ersterer auf das Einzelinter-

esse und ist eine Summe einzelner Willensmeinungen. Zieht man nun von diesen Willensmeinungen

das Mehr und Minder, das sich gegenseitig aufhebt, ab, so bleibt als Differenzsumme der Allge-

meinwilleubrig.“

88

Die Verbindlichkeiten [...] sind nur deswegen verpflichtender Natur, weil sie

gegenseitig sind, und ihr Wesen ist der Art, daß man bei ihrer Erfullung nicht fur andere arbeiten

kann, ohne fur sich zu arbeiten.“

89

Bei Askemos ist die

regulative Idee“ in eine technische Losung verwandelt, denn der User, der

alle seine Rechte veraußert, katapultiert sich aus dem System.

Was ist denn nun eigentlich die Handlung der Souveranitat? Nicht dieUbereinkunft des

Hoheren mit dem Niederen, sondern eineUbereinkunft, des Korpers mit jedem seiner Glieder

[...] Solange die Untertanen nur in solcherUbereinkunft angenommenen Gesetzen unterworfen

sind, gehorchen sie niemandem als ihrem eigenen Willen; und die Frage stellen, wie weit die gegen-

seitigen Rechte des Souverans und der Staatsburger gehen, heißt nichts anderes als fragen, bis wie

weit sich letztere gegen sich selbst, jeder gegen alle und alle gegen jeden verpflichten konnen.“

90

Mit Jean Jacques Rousseau gelangt das abendlandische Denkenuber den Staat an eine große

Wende, ja ich glaube sagen zu konnen an seine bedeutendste Wendeuberhaupt seit der Christia-

nisierung.“

91

Wir mussen nicht weiter untersuchen, welche Macht eine

regulative Idee“ in der Gesellschaft

hat. Bei Askemos findet sie eine technische Unterstutzung.

85

Als Beispiel zitiere ich eine Bestimmung aus dem Lizenzvertrag, den ein Askemos-Teilnehmer eingeht. Der Ver-

trag besteht aus Teil A und Teil B. Teil B betrifft die speziellen betrieblichen Notwendigkeiten des Lizenznehmers.

Teil A enthalt Reglungen, die alle Lizenznehmer betrifft. In den Vorbemerkungen heißt es in Punkt 3:

Der Lizenz-

geber sichert hiermit ausdrucklich zu, daß er mit samtlichen Lizenznehmern, soweit es den Vertragsteil A betrifft,

unabhangig von der verwendeten Sprache einen identischen Vertragstext vereinbart hat oder vereinbaren wird. Der

Lizenzgeber verpflichtet sich weiterhin, daß der Vertragsteil Auber das Internet fur samtliche Lizenznehmeroffentlich

zuganglich ist.“ In der Offenheit realisiert sich hier der Allgemeinwille/volonte general oder die Souveranitat aller

Askemos-Teilnehmer.

86

ebenda, S. 23

87

ebenda, S. 28

88

ebenda, S. 32

89

ebenda, S. 34

90

ebenda, S. 36f

91

Vossler, Rousseaus Freiheitslehre, S. 9

15